Donnerstag, 19. August 2021

Eine Geschichte über Geschichten

Es war einmal eine Geschichte die lebte ganz allein. Da begann sie sich selbst Geschichten zu erzählen und die waren ihre Kinder und ihre Heimstatt und sie schützten sie, weil sie an sie glaubte. Doch eines Tages bemerkte die Geschichte, dass ihre Kinder sich alle sehr ähnlich waren und ihre Heimstatt war ein hoher, enger Turm, aus dem ein Entkommen unmöglich schien. Und auch den Kindern dürstete nach einem Entkommen und Gesellschaft. Da erschien ihr in bitterster Not eine Geisterfee, die ihr folgenden Zauberspruch gab:

"Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern."

Kaum gesprochen, erschien eine Strickleiter am engen Fensterchen des hohen Turmes und die Geschichte und ihre Kinder konnten hinabsteigen. Nun dauerte es nicht lange, bis sie an einen Ort kamen, wo andere Geschichten sich trafen um sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Das war der bislang einsamen Geschichte neu und sie schickte ihre Kinder zu den anderen zum spielen. Nun war es  aber so, dass die Geschichtenkinder ob ihrer Isolation sehr schwächlich waren und dünn. 

Da geschah es, dass die anderen Geschichtenkinder kamen und sie veränderten, so dass sie farbenfroher und robuster wurden und auch die Kinder zusammen neue Kinder erfanden. Auch die Eltern mischten sich ein und demontierten einige der schwächlichsten Geschichten in Teile. Da wurde die bislang einsame Geschichte traurig, da sie nur dies angeblich Schlechte sah und nicht die Vorteile und begann ihre Kinder zu beschützen, indem sie Gitter darum baute die hießen „Meine Kinder sind eben anders, sie können nicht mit den anderen spielen und dürfen nicht demontiert werden."
Das begann die anderen Geschichten aufzuregen, denn nun mussten sie immer um die Käfige herumlaufen und das war beschwerlich und da rissen sie die Käfige ab und bauten daraus eine Geschichte, die nur die einsame Geschichte wieder ganz allein einschloss, während ihre Kinder draußen blieben. 

Da die Gefängnisgeschichte sehr überzeugend war, glaubten sie alle einschließlich der Eingeschlossenen. Und nun verstand erst die eingesperrte Geschichte den Zauberspruch und sie sah, dass Geschichten sogar Macht über ihre Erfinder haben und sie zerstören können. Des weiteren leuchtete ihr ein, dass es möglicherweise auch eine Geschichte war, die über sie alle erzählt wurde und in der sie alle lebten. Und war es dann nicht möglich dass, auch diese große Geschichte irgendwann einmal demontiert wurde und all die Abgrenzungen hatten keinen Sinn? Nun war es nicht ausgeblieben, dass einige mitleidige Geschichteneltern sie in ihrem Gefängnis besuchten (sie wurden von den anderen auch als Verräter beschimpft), um mit ihr zu diskutieren und denen erzählte sie eines Tages von ihrer Erkenntnis.

Das kam nach draußen und da wurde das Gefängnis abgebaut und Zäune wurden allgemein verboten. Und sie erkannten auch ihre Gram über die demontierten Kinder und führten sie zum Ort der Zerbaunis.
Da sah sie, dass die Einzelteile nicht tot waren, sondern ein eigenes, kleines Leben weiterführten. Und von Zeit zu Zeit kam auch Eltern oder Kinder vorbei und borgten sich was für etwas Größeres. Es war ein Ort des Lebens, nicht des Todes. Und danach begann die einsame Geschichte erst, die anderen Geschichten zu lesen und mit ihnen neue Geschichtenkinder zu erfinden. Doch auch Geschichten sind
vergesslich, denn sie sind dem Diktat der umgeblätterten Seite unterworfen. Und wenn keiner zurückblättert, wird wohl dieselbe Geschichte, von der die einsame Geschichte nur vermutet hatte, dass es sie gibt, noch einmal erzählt werden.

Mittwoch, 4. August 2021

Vom Vorteil, verrückt zu werden

Es gibt keine Gebrauchsanweisung für diesen Text. Betrachtet
man das Leben nüchtern und normal, gibt es eigentlich, nachdem man
in die vertragsverpflichtete Generation über 30 eingetreten ist, keinen
vernünftigen Grund mehr, ein Ego zu besitzen. Behält man es, wird es
doch zerrieben zwischen Partner, Kind und Job. Vielleicht auf dem Abort
kann man es ab und zu benutzen. Oder man lässt es ganz, ganz
einfach los und ist eben für die anderen da, als Zahnrad, als
Sandwich, als Sorgenonkel. Das ist die eine Art, davonzukommen.

Vielen gelingt das problemlos. Die, die ihr Ego mögen und festhalten,
werden Egomanen, Zyniker, Trinker, depressiv oder aber verrückt. Am besten,
man wird verrückt. Ganz im positiven Sinne! In diesem Falle ist der
Weg wirklich mal das Ziel, an das auch viele andere Wege führen,
manche sogar in die Irre. Verrückte Menschen werden für ihre
Unberechenbarkeit geschätzt, jaja. Sie sind nie allein, denn sie haben
einen ganzen Zoo im Kopf. Es gibt keine Langeweile mehr. Sie
gelten als kreativ, hüstel, usw. Ist natürlich ein schmaler Grat. Also
wie wird man verrückt: Erstmal stellen Sie sich selbst in Frage, dass
sowieso. Damit beginnt dann eine ganz große Scheiße. 

Wenn sie die geistig überleben, fangen Sie an, ihre Welt frei zu gestalten, in
Gedanken. Und zwar ganz frei. Stellen Sie sich vor, wie klein der
Unterschied ist zwischen dazwischen und inzwischen. Na bitte.
Lachen Sie dann mindestens einmal pro Tag laut und hysterisch
wie ein verrückter Wissenschaftler eben. Lesen Sie vor allem
populärwissenschaftliche Bücher über Quantentheorie, daneben
deutsche Philosophen, Ufo-Esoterik und Schlumpfcomics. 

Dann können sie auch schon damit anfangen, Unsinn zu machen und auch
andere dazu anzustiften. Erzählen Sie etwa allen, dass Schaden klug
macht und wie sie sich so schon einen sagenhaften IQ erarbeitet
haben. Dekorieren sie Essen und Essensreste ganz nach Gutdünken
zu Konzeptkunst und verlangen sie vom Ober Geld dafür (Sie können
wahlweise auch an rituellen Essenschlachten teilnehmen wie die mit
den Tomaten). Dann malen sie surrealistische Bilder, schreiben
unsinnige Gedichte und legen sich einen oder zwei unsichtbare
Freunde zu. 

Benutzen sie auch ihre Mitmenschen als Schauspieler
oder Dekoration in ihrem freien Theaterstück. Stellen Sie sich dann
vor, dieses Theaterstück wäre keins, sondern ihr Leben sei so.
Herzlichen Glückwunsch. Sie sind frei und haben ihr Ego behalten.
Und niemand will es mehr von Ihnen haben, stattdessen wird man
anstehen, um seine Früchte zu haben, wenn Sie es gut anstellen.

Mittwoch, 14. Juli 2021

Der Mensch als Nutztier (Gastbeitrag von Sebastian)

In dieser Ordnung, der bürgerlichen, kapitalistischen, werden ja alle Wesen geschunden und verletzt, jeden Tag. Seelisch und körperlich; die Lohnarbeit macht Menschen zu Krüppeln, wir nennen das Berufskrankheiten, Vorruhestand, Frühverrentung, Berufsunfähigkeit, Burnout etc. und führen Statistiken darüber, die zu beurteilen helfen, ab welchem Ausmaß das dann nicht mehr zu vertreten ist, und zwar politisch nicht mehr zu vertreten ist und der Staat intervenieren muß (das Selbe auch im Allgemeinen bei zum Beispiel Grenzwerten für Luft- und Wasserverschmutzung). Mindestlohn, Arbeitsschutzgesetze, Gesetze zur Krankheits- und Rentenversorgung, das heißt Versorgung in denjenigen Zeiten, in denen die individuelle Arbeitskraft nicht ausreichend oder gar nicht zur Reproduktion eben dieser Arbeitskraft eingesetzt werden kann, das heißt nicht gekauft wird. Kindergeld, weil noch keine Arbeitskraft im Kind verfügbar ist, aber zukünftig; das variiert von Land zu Land. In Afrika und weiten Teilen Asiens verkaufen Frauen ihre Neugeborenen, der Marktpreis ist ein Scheffel Reis, der nährt den Rest der Familie für wenige Tage.

Keiner dieser Standards oder Grenzwerte sagt, das darunter kein Schaden entstünde; Uran im Wasser, Schwermetall im Gemüse, Hormone im Waschmittel, Lösemittel im Spielzeug, Feinstaub in der Luft, aber auch wöchentlich 32 Stunden in der Aluhütte, täglich 11 Stunden im Lkw-Führerhaus, 15 Tagesstunden als Kellner im Biergarten oder 40 Wochenstunden im ozon- und feinstaubverseuchten Büro sind und bleiben giftig und verursachen Schäden und Verkürzung der Lebenszeit und Tote, nur eben nicht mehr genug als daß darum noch jemand ein Aufhebens machen würde.

Alle Wesen, und wie es dann den restlichen, nicht-humanoiden Mitbewohnern des Planeten ergeht, darüber muß man keine empörten oder erstaunten Worte mehr verlieren.

Politisch also, nicht menschlich unvertretbar. Es gibt keine anderen anerkannten Ursachen dafür als die, die angeblich im Individuum selbst zu finden sind. Wer Probleme hat, ist nicht genügend ausgerüstet für die Anforderungen, er hat sich selbst nicht passend zugerichtet. Schwäche also. Kein Psychologe, niemals, mit keinem Wort, erklärt dem Patienten jemals etwas anderes, als wie er an sich “arbeiten“ kann um mit den Problemen umzugehen. Die PROBLEME anzugreifen ist hier keine Option, und das ist schon deswegen klar, weil die Probleme systemisch erzeugt werden und innerhalb dieser Ökonomie gar nicht gelöst werden könnten. Mit den Ideen und Gedanken von Freud, auf dem sie gründet, hat die Psychotherapie nichts mehr zu tun, sie ist pervertiert.

Als meine damalige Frau, mit dem Studium schon fertig, ihre erste Anstellung als Psychotherapeutin in einer Klinik hatte, da kam sie zu mir wegen einer ihrer Patientinnen, die seit längerem in tiefste Depressionen gefallen war; der Grund war, sie war arbeitslos geworden, und in das damals noch recht neue Hartz-System eingezogen. Ein Elend. Der Rat, den ich meiner Ex damals gab, kommt mir heute noch klug vor: Ich hab ihr gesagt, sie soll die Patientin anregen, sich mit anderen wie sie betroffenen Leuten in Verbindung zu setzen, eine Gemeinschaft zu bilden die sich gegen diese Demütigungen und Repressionen gemeinsam zur Wehr setzt, und ihr zeigt, daß sie nicht allein und schuldig, unzureichend und minderwertig, sondern eine von vielen ist, die jetzt in die Tretmühlen dieser zynischen Objektverwaltung geraten ist.

Also ihr nicht zu erklären, daß sie ja mit einem gewissen Selbsteinsatz, Mut und Organisation oder was weiß ich auch eine Arbeit finden könnte und ähnlichen Stuß, sondern ihr klarmachen, daß nichts an ihr falsch ist, sie schlicht das Opfer einer Vergewaltigung ist, einer staatlich oktroyierten Geißelung ihres Selbst, deren Umsetzung in Zwang, Schikane, Demütigung, Beleidigung, Abrede und Gängelung und so weiter nur die Spiegelung der Sicht der Kapitalgesellschaft auf ihre Insassen ist: Träger von Arbeitskraft. Nutzvieh.

Wir haben “Problemkinder“ in “Problembezirken“, die irgendwie komisch und aggressiv und angeblich konzentrationsgestört sind, das nennen wir AD(H)S und damit also krank nach dem ICD und der öffentlichen Meinung.

Wir haben “Alte“ in “Heimen“ über deren Weiterleben oder eben nicht weiter leben schon entschieden wurde, noch bevor menschenfeindliche Psychopathen in der laufenden, aktuellen Krise die kriminellen Diskussionen über Auswahlkriterien und Sinnhaftigkeit medizinischer Notversorgung für alte Menschen begonnen haben, und dafür auch immer genug Raum in den Medien bekommen.

Es ist schon länger her, daß aus den Kreisen der FDP “Diskussionen“ angestoßen wurden, ob es denn noch “sinnvoll“ sei, einem Achtzigjährigen eine neue Hüfte zu bezahlen. Ob man da nicht sparen könne. Ob man sowas überhaupt rechtfertigen könne, wo man doch Verpflichtungen gegenüber den Jungen und “den nachfolgenden Generationen“...

Nichts davon ist irgendwie neu, oder neu gedacht.

In dieser Gesellschaft gibt es keine Menschen, es gibt humanoide Organismen, die sich über eine von zweien oder beide Funktionen zu bewähren, das heißt zur Kapitalakkumulation beizutragen haben:

a) Konsument

b) Erzeuger von Mehrwert, das heißt Arbeitskraft.

Sonst keine Optionen.

Die menschliche Arbeitskraft, und nur die, erzeugt den Mehrwert im Produkt, das ausschließlich als Ware verfügbar ist, also käuflich erworben werden muß. Kein Käufer, keine Einlösung des Mehrwerts - das Produkt ist wertlos und verfällt. Kein Mahagonibaum ist etwas wert, bevor er gefällt und als Holz-Ware einen Abnehmer gefunden hat (natürlich wird Geld für den Besitz von Wald und Bäumen bezahlt, aber das hat nichts mit dem Wert der Bäume sondern mit der Spekulation auf künftige Erlöse damit zu tun). Honig, wo man meinen könnte die „Arbeit“ der Biene schaffe den Mehrwert aus dem Pollen, ist nutz- und wertlos solange er im Stock am Baum pappt und nicht von Menschen eingesammelt wird.

Es sei gesagt, daß schon sinnvoll unterschieden werden muß zwischen verschiedenen Formen des Wertes; man könnte den Honig einfach selber essen, aber hier genügt als Hinweis auf die in dieser Ökonomie entscheidende Form, Warenwert, diese Formulierung eines längst vergessenen und wenn nicht vergessen dann geschmähten Bartträgers:

„Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung.“

Selberfressen macht zwar fett, aber nur solange man auf einen Baum klettern kann und das auch darf, weil dieser Baum nicht jemandem, anderen, gehört.

Milliarden von Tonnen von Nahrung haben keinen Wert, wenn sie nicht VERKAUFT werden können. Der Produzent dieser Nahrungsmittel geht konkurs, die freigesetzten Arbeitskräfte verfügen über weniger oder gar kein Einkommen mehr, das mindert die gesellschaftliche Kaufkraft für Nahrungsmittel, und die Produzierenden der Nahrungsmittel, die weil unverkäuflich vernichtet worden sind, verhungern.

Die Produktion von Gütern, die nicht als Waren abgesetzt werden können, wird eingestellt und unterbleibt, egal ob es sich dabei um eine Sorte Brot, ein Automobil, eine unrentable Verkehrsverbindung oder auch die Produktion von Dienstleistungen handelt. Beispielsweise Postämter oder Gesundheitsversorgung auf dem Land oder in Kleinstädten oder Großstadtvierteln oder überhaupt.

Umgekehrt wird was als Ware absetzbar ist auf jeden Fall produziert, gleichgültig wie schädlich das Produkt für Mensch und Umwelt auch sein mag.

Ich habe einen Klumpen Gold, der ist 1000 wert. Ich baue eine Gussform, schmelze das Gold, und aus der Form entnehme ich eine goldene Venus. Ein Kunstwerk, und es ist 100 000 wert. Der Käufer nimmt die Venus, schmilzt sie ein, und hat wieder einen Goldklumpen im Wert von 1000. Das Gold ist fixes Kapital, die Arbeit darin variables Kapital, und nur mit diesem kann Gewinn erwirtschaftet werden, denn der Preis für das fixe Kapital ist stets gleich.

Moderne Maschinen können Gussformen auch bauen, allerdings müssen die Maschinen und die Steuerung erst von mir gebaut werden. Ich habe also die Gussform über einen Umweg gebaut, mit dem Unterschied, daß mir die Befriedigung des eigentlichen Erschaffens der Figur genommen ist, ich von der Arbeit also entfremdet bin; anstatt eines Kunstschaffenden bin ich jetzt eine Kraft, die abstrakte, weil unpersönliche, von mir unabhängig reproduzierbare Waren schafft. Ich bin damit entmenschlicht, denn der Mensch ist ein schaffendes Wesen oder Nichts.

Ich erhalte auch für diese Tätigkeit einen Lohn, der sich aber keineswegs an der Güte oder Kunsthaftigkeit des Produktes mehr bemißt, sondern nur daran, welche Kosten gesamtgesellschaftlich, also volkswirtschaftlich, die tägliche und die generelle Wiederherstellung meiner Arbeitskraft für diese Tätigkeit verursacht. Ich muß am nächsten Tag wiederkommen können. Oder zum gleichen Preis, das heißt zu den kalkulierten Kosten, ein Anderer mit gleicher Produktivität. Sonst nichts.

Nicht enthalten sind die Kosten, die meine Existenz vor Eintritt in den Lohnerwerbszyklus (Säugling, Kind) und nach Austritt (Alter) mir selbst verursacht. Es wird also nicht meine Arbeit entlohnt, nicht einmal meine Arbeitskraft, sondern die Kosten zur Aufrechterhaltung meiner Arbeitskraft werden erstattet, und zwar aufgrund der Konkurrenz stets zum gesamtgesellschaftlich ausgehandelten Minimum.

Daß das im Lebensabschnitt der Erwerbsfähigkeit Erwirtschaftbare für die Arbeiter gar nicht ausreicht, um ihr ganzes Leben zu finanzieren (und da reden wir gar nicht von großen Sprüngen oder Luxus), führt dazu, daß sie gezwungen werden, in ihrer Klasse, untereinander, solidarisch zu sein: der Staat greift noch vor der Auszahlung nach Gutdünken auf die Lohnsumme zu, und verteilt innerhalb der Arbeiterschaft um, zwingt also den Einzelnen zu weiteren Einschränkungen im täglichen Leben und Lebensgestaltung durch weitere Verknappung des zur Verfügung stehenden Warenerwerbsmittels, zum Zwecke der Kostendeckung im Alter. Was der Arbeiter von sich aus gar nicht tun würde, denn eigentlich reicht der Lohn ja gerade so für den aktuellen Lebensabschnitt. Der Lohn ist also defizitär, die Reproduktion gelingt nie vollständig, wir verschleißen.

Die Einführung von Arbeitersiedlungen, irgendwann Arbeitszeitgrenzen, Altersgrenzen nach unten für die Arbeiterschaft, später Krankenversorgung etc. sind nicht etwa aus einem sozialen Gedanken oder besserem entstanden, sondern weil das Kapital die Quelle seiner Mehrung, die Menschen als Träger der überhaupt nur verwertbaren Arbeitskraft fraß und frißt. (Auch ein Ochse der ein Mühlrad dreht tut das nur durch einen Menschen der ihn zähmt, nährt, züchtet; ist der Ochse frei, latscht er wieder durch die Wiesen und verrichtet keinerlei Arbeit, als ob nix wär’.) Um also das Werk des Kapitals zu erhalten, nicht es zu bremsen.

Wenn in den Anfangsjahrzehnten der Industrialisierung der Arbeiter nach seinem Zwei-Stunden-Marsch in die Stadt 16 Stunden gearbeitet hatte und dann zurückgewandert war, sechs Tage jede Woche, dann wurde seine Erschöpfung und die Ausfallrate durch Tod oder Verletzungen durch Ermüdung etc. spätestens dann zum Hemmnis für die Produktivität, das heißt die effiziente Verwertung des eingesetzten variablen und fixen Kapitals, als die Maschinen und deren Bedienung komplexer wurden und somit die Arbeitskraft differenzierter, also bei Ausfall weniger leicht zu ersetzen. Es wurde irgendwann ökonomischer, ein paar Häuser zu bauen und die Arbeiter fabriknah wohnen zu lassen, zumal man die Miete dann ja auch noch hatte. Und passiert ist das auch erst, als dieser ökonomische Vorteil durch Untersuchungen und Berichte und praktische Erfahrung auch aus anderen Ländern nachgewiesen war. Die Arbeit wurde produktiver, also billiger, die Kosten des variablen Kapitals sanken, der Mehrwert konnte aber zum gleichen Preis abgesetzt werden, die Profitrate stieg an.

Die Rente im Alter dient keiner Reproduktion von Arbeitskraft mehr, entsprechend unterliegt sie dauernden verschärften Angriffen, und die Empfänger, genau wie Arbeitslose, einer ununterbrochenen Denunziation als unnütz und überflüssig, reine Kostgänger halt. Politisch kann man diesem noblen Verlangen unserer Wirtschaft, hier doch zu sparen und nochmals zu sparen allerdings nicht so leicht und vollständig stattgeben. Wegen des Gestanks und der Fliegen.

Damit das auch klar ist, nicht wegen des Gestanks und der Fliegen an sich, an beides gewöhnt man sich, aber in diesem Ausmaß würde der Gestank doch auf die allgemeine Volksmoral, und die Fliegen, die man ja (in Deutschland allemal, mit Müh und Not sind von den 80 Millionen 40 arbeitsfähig) in Kilogramm pro Kubikmeter Luft messen müsste, auf die Produktivität schlagen; man müsste sie chemisch bekämpfen um grob handlungsfähig zu bleiben. Das schadet auch den Menschen.

Atombomben werden übrigens nicht deswegen nicht abgeworfen weil sie soviele Menschen töten, sondern weil das Wirkungsgebiet auf unabsehbare Zeit der Vernutzung durch das Kapital entzogen ist. Interessanter, und möglich, wird der Einsatz dann wieder, wenn ein Gebiet sowieso dieser Nutzung dauerhaft entzogen ist, weil zum Beispiel der Russe draufsitzt („Njet“) oder der Chineserer, und, das ist entscheidend, auf unabsehbare Zeit diesen Anspruch auch behaupten kann. Weil dann ist’s egal, und vielleicht räumt man damit den Konkurrenten aus. Für zukünftige Generationen.

“Alte“, Rentner, Kranke (oder Dasselbe in anderer Diktion: “die Überalterung“ [!!! das heißt Menschen leben zu lange, bzw. die falschen Menschen], die “Alterspyramide“, die ständig wachsenden “Kosten“ für die Krankenkassen [als könnte sich ein nicht hirntoter, nicht egomanischer, nicht völlig verkommener Mensch einen ANDEREN Zweck als Kostenübernahme für diese Institutionen vorstellen]), die haben alle eines gemeinsam nicht: Geld für Konsum und damit Erlös des in den Waren enthaltenen Mehrwertes, oder noch Arbeitskraft die verwertbar im Sinne von profitabler Anwendung für Erzeugung neuen Mehrwertes im fixen Kapital ist, also rentabel eingekauft wird.

Ein 80-jähriger Millionär mit Leberkrebs und Schüttellähmung ist in dieser “Diskussion“, die keine ist, sondern eine Veröffentlichung der herrschenden Sicht und Umsetzung, niemals gemeint. Er hat Kaufkraft, er ist kein Problem. Er ist ein Leistungsträger.

Kinder haben auch keine Kaufkraft, entsprechend ist Kind-sein auch kein Zuckerschlecken, allerdings haben Kinder einen Bonus: sie sind zukünftige Arbeitskräfte. Die Kosten für die ersten zwanzig Lebensjahre sind selbstverständlich von den Erzeugern zu tragen, auch wenn es dafür im Lohn den diese bekommen oder eben zunehmend nicht bekommen, gar kein Budget gibt. Und so ist das auch gemeint: die Falschen, also die ohne Geld weil nicht arbeitskräftig verwertbar genug, brauchen auch keine Kinder zu bekommen, auch das ist offiziell verkündet. Hier äußert sich wohl der Gedanke der guten und schlechten Genetik, also der Erblehre im schwärzesten Sinne, der Rassismus wäre, wenn er sich nicht eben auch gegen die eigene Mannschaft richten würde. Wir brauchen keine Kinder von Hartzern. ALGII-Empfängern wird das Kindergeld, das per Grundgesetz nicht nur an einige, sondern wenn, dann an alle bezahlt werden muß, vom Regelsatz wieder abgezogen. Das geht. Es wird ja bezahlt, nur sinkt dann der “Bedarf“ wie das so schön heißt. Frau X verdient jedes Jahr eine Milliarde dazu und erhält monatlich 270,- und mehr vom Staat je Kind, und darf das auch behalten. Genau wie das Elterngeld und, sollte es einst eingeführt werden, das Grundeinkommen.

Gut, der Kern der Sache ist die Reproduktion, deren Organisation halt in dieser Ordnung nicht im Sinne der Bedarfsdeckung für die Menschen, also der Reproduktion, des Erhaltes, menschlichen Lebens angelegt ist, sondern den Menschen als Mittel zum Zwecke der Reproduktion eines abstraktes Gebildes vernutzt und mißbraucht.

Das natürlichste Streben allen Lebens: der Selbsterhalt, und der dafür notwendige Aufwand der betrieben werden muß: Arbeit, werden dem Lebewesen entnommen und richten sich gegen das Wesen: die Arbeit hält es nicht am Leben sondern richtet es zu Grunde.

Der Nazi zieht aus all dem nur die falschen Schlüsse. Wut auf die Zustände hat er schon.

Aber seine Basis, das faschistische Weltbild, die muß er sich nicht ausdenken, die ist hier schon gesamtgesellschaftlich angelegt. Blinde Wut, so fällt ihm auch nicht mehr schwer auszublenden, daß sein Führer, der vor ihm stehend das “System“, “die Reichen“, die Zustände lauthals anprangert, nichts und gar nichts anderes ist als ein Vertreter genau dessen; alle die AfD- und Pegida- und sonstigen Hundsfötte sind Doktoren, Professoren, Politiker seit Jahrzehnten, Unternehmer usw. usf.

Das ist ein Widerspruch; den aufzuheben nutzt man den Fingerzeig auf ANDERE, und damit rücken EINZELNE ins Licht des Scheinwerfers der Verantwortliche sucht, wo es gar keine mehr gibt, weil nichts mehr anders sein kann in einer Welt, die kein Menschsein zuläßt. Und damit, mit dem Fingerzeig, schürt es die Mordlust.

Wie kam ich jetzt eigentlich auf diese kurze Einleitung; ja ich hab vor Ewigkeiten mal zwei Bücher aus dem Laden vom Vater mitgenommen, Otto von Corvin, aus dem 19. Jahrhundert, zur damaligen Zeit und lange ein Bestseller. Band eins “Der Pfaffenspiegel“ und Band zwei “Die Geißler“.

Ein großer Freigeist und Aufklärer, dessen Werke für fehlende Wissenschaftlichkeit kritisiert wurden, ein Anspruch den er gar nicht erhoben hat.

Es ist, Dir wird's gefallen, unfassbar witzig und unterhaltsam. Man kann die Dinger für um die fünf Euro schön zerlesen im Leineneinband antiquarisch schießen, und es gibt sie auch digital, zum Beispiel hier:

https://www.projekt-gutenberg.org/corvin/geissler/geissler.html

Ein Auszug aus “Die Geißler“, Kapitel 1 “Allgemeine Prügelschau“:

>>>In einem Buche, welches ebenfalls vom Geißeln und den Jesuiten handelt, las ich, daß ein berühmter Gelehrter in einer deutschen Universitätsstadt folgendes Schema für die Geschichte des Schlagens aufstellte: »Die Prügel oder Schläge, sagte er, lassen sich eintheilen in Staats- und Privat-, öffentliche und geheime, freiwillige und unfreiwillige, zweckgemäße und zweckwidrige, rationalistische und supernaturalistische, geistliche und weltliche, reguläre und irreguläre, trockene und saftige Prügel. Ferner lassen sie sich eintheilen: 1) nach dem Subjekte, welches prügelt; 2) nach dem Objekte, welches geprügelt wird; 3) nach dem Materiale, womit –, 4) dem Körpertheile, auf welchem es geprügelt wird; endlich 5) nach der Dauer der Züchtigung.«

Ich führe dies nur an, um eine Uebersicht von all den Thematas zu geben, welche in diesem Buche mehr oder minder weitläufig abzuhandeln sind. Auf alle Spielarten kann ich mich nicht mit gleicher Gründlichkeit einlassen, sondern muß mich hauptsächlich auf die geistlichen Prügel beschränken; allein da alle andere Arten mehr oder weniger nahe mit ihnen verwandt sind, so muß ich sie wenigstens in der Kürze berühren, und das soll in diesem Kapitel geschehen.

Zunächst wollen wir darin die klassischen Prügel und nach ihnen die biblischen untersuchen; dann folgen die weltlich-mittelalterlichen und endlich die modernen, insofern sie nicht Kinder der römisch-katholischen sind und in das Gebiet der geistlichen herübergezogen werden müssen.<<<

Donnerstag, 14. Januar 2021

Der leere Kasten

Herr Dr. psych. Spinnebein trommelte gelangweilt mit den Fingern auf den Tisch und blickte in seine leere Praxis. Er hatte einen großen Tisch und ein paar Stühle drumherum. Die "Bekloppten", wie er seine Patienten insgeheim liebevoll nannte, konnten sich einen der Stühle aussuchen, je nachdem, wieviel Distanz sie brauchten. Dann gab es noch einen Wasserspender mit spitzen Wasserhütchen und eine Tafel zum dran herum malen. Eine Couch gab es nicht. Dr. S. mochte es nicht, wenn die Patienten einschliefen. Herr S. trug einen Kittel, als niedergelassener Psychologe eigentlich eher eine blöde Angewohnheit.

Dann klopfte es endlich und ein neuer Patient, den er noch gar nicht kannte, betrat den Raum. S. stand auf und gab ihm die Hand, die ihm der andere, etwas mechanisch, wie S. schien reichte und schlaff auch noch. Der Blick des Patienten war stur auf seine Füsse gerichtet. Er war ein hoher und auch recht beleibter Herr mittleren Alters mit Halbglatze. Roboterhaft schnurrte er ein "Gutentachherrdokter" herunter und setzte sich auf den Stuhl, der am nächsten zu den stand, auf den sich Herr S. gesetzt hatte. "Also Kontaktangst hat der schon mal nicht", dachte S. und fragte:

"Sie sind also Herr...?"

"Wast mein Name, Johann." Wieder dieses Schnurren. S. lief es kalt den Rücken herunter. 'Sei ein Profi!', rief er sich zur Ordnung.

"Ah, ja und weswegen haben sie diesen Termin verabredet Herr Wast?"

"Hmm nun ja, sie können sich vorstellen wie peinlich mir das ist..."

"Nur keine Scheu."

"Also mich, mich, ähhhh...."

"Ja?"

"Mich befallen Persönlichkeiten anderer Menschen Herr Dokter. Sie befallen mich wie Krankheiten."

"Ja, das ist nicht unbekannt, Herr Wast, da seien Sie beruhigt. Wie wachen Sie denn morgens auf?"

"Ja ganz normal mit dem Wecker."

"Ah nein, als wer oder was wachen Sie denn morgens auf?"

"Ja, morgens ist es auch sehr schlimm, da bin ich praktisch leer."

Herr Wast griff sich an den Kopf "Ein ganz leerer Kasten ist das dann."

"Ah,  Sie meinen also, morgens gar keine eigene Persönlichkeit zu haben, in der Nacht wird alles gelöscht und Sie.."

"Genau so ist es..."

"...müssen  sich ihre Person im Laufe des Tages erwerben? Wie ein geschlüpftes Küken?"

"Muss ich, ja, und dass ist mir peinlich."

"Aber das braucht Ihnen doch nicht peinlich zu sein."

"Ich habe Skrupel."

"Hmmm?"

"Und es ist unangenehm, ich habe ja oft keine Handhabe, was ich da abbekomme. Wie eine Krankheit ist das, ich schaue nur jemanden an und es geht ratzfatz! Plötzlich sind Sie eine Backwarenverkäuferin. Busfahrer. Oder ein Bettler. Oder..." er schüttelte sich, "...ein Pantomime. Und wenn dann jemand den Schwindel entlarvt, muss ich wieder wechseln. Das kann ganz schön chaotisch werden. Also ich war da mal in einem Stadion zwischen zwei Fanblocks..."

"Soso, hörn Sie mal, Herr Wast. Ich verschreibe ihnen eine verspiegelte Brille. Das dürfte Ihnen helfen, bis wir für Sie was dauerhaftes gefunden haben."

"Oh, danke Herr Dokter."

"Noch eins Herr Wast."

"Ja?"

" Schauen Sie mir doch bitte mal in die Augen. Wer sind sie gerade?"

"Aber...Sie wissen nicht..."

"Ich bitte Sie! Ein Experiment!"

"Bittesehr. Jetzt werde ich. Ich werde Sie."

"Hochinteressant! Hochinteressant! Das will ich sehen, warten Sie!"

Her S. kramte nach seiner Videokamera. Als er aufsah, war Herr Wast verschwunden!

"Na sowas. Bin ich jetzt überarbeitet oder was?" murmelte er.

Er sinnierte eine Weile auf seinem Stuhl, dann rief er:

"Schwester! Haben wir noch einen Termin?"

'Zu langsam!', lachte eine schnurrende Stimme in seinem Kopf.

Die Schwester steckte den Kopf ins Zimmer.

"Haben Sie mich gerufen? Wo ist denn der Herr Dokter hin?"

"Ja das ist mir jetzt wieder peinlich, aber...", sagte Herr Wast, sah sie bübisch an und legte den viel zu kleinen Kittel sauber über den Stuhl, "..es geht immer so verdammt schnell."