Beim Schauen der Diskussion
zwischen Herrn Friedman und Herrn Grün schien es mir, als stünde eine
logische Definition des Begriffes "Vernunft" im Raum, aber 45 Minuten
sind eben zu kurz für sowas. Hier also nun mein Senf dazu, der sich
ziemlich nah an Immanuel Kant orientiert.
Meiner Meinung nach ist ja Gott ein Axiom, zu dessen Verehrung die
Regeln der Religion Stück für Stück postuliert und mit moralischen
Logiken verknüpft wurden. Kant meinte übrigens, Gott wäre ein Postulat der moralischen und sittlichen Vernunft. Was ist nun aber Vernunft?
Vernunft ist ein Konstrukt aus Wunsch oder Wille (Axiom), Regel
(Postulat) und Begründung (Logik) in Einzahl oder Mehrzahl. Aus einem
vielleicht sogar emotionalen Wunsch heraus werden Regeln postuliert,
die dafür sorgen, dass der Wunsch respektiert und erfüllt wird. Diese
Regeln werden mit rationaler oder irrationaler Begründungslogik
verknüpft, meist sogar mit einer Mischung aus beiden. Diese Logiken
können auf individuellen oder kollektiven Erfahrungen beruhen (Wetter),
aber auch erfunden sein.
Wie
im oben genannten Gespräch schon anklang, gibt es eine individuell
praktikable Vernunft, die auf Eigennutz fußt und eine kollektive
Vernunft, in der die Standpunkte Vieler gemittelt oder normiert sind.
Eine weitere Kategorisierung der Vernunft könnte in geistiger und
materieller Vernunft bestehen.
Eine kollektive Vernunft wäre zum Beispiel das juristische Gesetzeswerk,
die Religion, aber auch die Moral (Sittlichkeit), handwerkliche
Verfahren, Demokratie oder Stilformen und Spiele aller Art. Eine
individuelle Vernunft wäre zum Beispiel eine Berufswahl (Berufung),
Partnerwahl, ja Auswahlprozesse jeglicher Art, aber auch Selbstbilder,
Ideale und Rituale.
Natürlich können individuelle und kollektive Vernünfte kollidieren, ja
verschiedene Vernünfte an sich kollidieren oft. Dann muss sprachlich
oder auch körperlich argumentiert werden, überzeugt oder verführt. Die
Regeln werden dadurch neu ausgehandelt, die Vernünfte adaptiert. Die
Vernunft ist also auch der Evolution unterworfen.
Im Gegensatz zum Verstand, der eine Gehirnfunktion ist, ist die Vernunft
ein Prozess des Verstandes, der emotionale und rationale Sachverhalte
in Einklang (Ordnung) bringt und dafür sorgt, dass materielle und
geistige Dinge eine bestimmte angestrebte Ordnung einnehmen. Damit ist
eine Vernunft ein Ordnungsprozess. Vernünfte sind im Gedächtnis
gespeichert.
Ähnlich schwammig wie der Begriff "Vernunft" erscheint der Begriff "
Welt".
Aber so wie die Vernunft ein Ordnungsprozess des Verstandes ist, ist
die Welt ein Wahrnehmungsprozess der Ordnung. Indem der Verstand eine
Vernunft wahrnimmt, erkennt er eine Welt. Um den Kreis nun zu schließen, ist auch das Axiom, der Wunsch nach einer bestimmten Ordnung, die
Wahrnehmung einer zukünftigen Ordnung, eine zukünftige Welt. Am
schönsten zeigt sich die Verwandtschaft von Welt und Vernunft im Wort
Weltbild. Ein Weltbild ist eine kanonisierte Vernunft, ein
Ordnungsprozess. Da Ordnungsprozesse auch als Ordnung wahrgenommen
werden können, ist die Wahrnehmung eines Weltbildes eine Welt.
Auch
mit dem Wort "Sinn" (der Sinn des Ganzen etc.) können wir gleich hier
aufräumen, er ist nämlich synonym mit dem Wort Vernunft.
Nun
könnte es einem die Idee kommen, dass auch Welt und Vernunft dasselbe
seien, schließlich ist die Wahrnehmung von Ordnung mit dem Schaffen von
Ordnung im Verstand innig verknüpft. So innig, dass man dieser
Einheit einen neuen Namen geben sollte. John Locke hat es "Reflexion"
genannt.
Dass Welt und Vernunft so nahe
beieinander liegen, hat den Menschen zum Irrtum verleitet, hinter der
natürlichen Ordnung läge eine außermenschliche Vernunft. Natürliche
Dinge haben ihre Eigenschaften, die ihr Verhalten bestimmen. Die Ordnung
der Eigenschaften und des Verhaltens ist natürlich, die Erkenntnis
derselben aber menschlich und die begründende Logik dazu erst recht. Die
Natur ist also geordnet durch ihre Eigenschaften, aber nicht
vernünftig. Die Welt als vom Mensch wahrgenommen Ordnung trägt hingegen
bereits den Stempel der menschlichen Erkenntnis, die begründende Logik
den der menschlichen Vernunft. Mathematik ist die menschliche Sprache,
die Natur zu verstehen, nicht die "Sprache der Natur". Da sie sich aus
der Abzählbarkeit der Natur ableitet ist sie der Natur ähnlich, geht
aber durch Abstraktion über sie hinaus.
Dass
die Welt eines Menschen beeinflusst ist von seinen Vernünften hat noch
eine andere interessante Implikation. Der Mensch ist durch seinen
kindlichen Lernprozess mit einem Inventar an Vernünften ausgestattet.
Ein Gutteil dieser Vernünfte kommen von außerhalb, von anderen Menschen.
Wächst der Mensch heran, treten die Vernünfte in einen inneren
Konflikt. Dadurch kommt es zu einem teils emotionalen, teils rationalen
Aufräumen des Vernunftinventars, welches man als Erwachsenwerden
bezeichnet. Im Idealfall wird dadurch eine Metavernunft erreicht, eine
Innere Ordnung der Vernünfte, eine Art Kanon oder auch Kodex, eine
Geisteshaltung (Mindset, Weltbild). In der Metavernunft spiegelt sich
auch die vernetzte Natur der Vernünfte wieder, ihre Verknüpfungen
untereinander und dass eine Vernunft Folgevernünfte erzeugt.
Die
Metavernunft findet man schließlich auch in Regelwerken wie
Gesetzestexten. Verfassungen zum Beispiel fungieren als Metavernunft
eines Staates, ihnen ordnen sich andere Vernünfte, Regeln, Gesetze,
Aktionen und Verlautbarungen unter.
Die
schlechtesten, aber auch die besten Leistungen des Menschen entstehen
durch Fehler: das Verknüpfen von Regeln durch irrationale
Begründungslogik, interne Welten und Vernünfte mit externen zu
verschmelzen und die erwähnte Verwechslung von Natur mit Welt und
Vernunft sind Beispiele.
Treue Begleiter von
Vernünften sind Gefühle. Jede Vernunft ist von Gefühlen umhüllt, jede
Welt von Gefühlen gefärbt. Das Gefühl ist quasi die Eierschale der
Vernunft, es ist eine der sogenannten Randbedingungen. Deswegen sind
Kompromisse und Überzeugen so schwierig.
Präzisieren
wir nun noch das Wort Logik. Sowohl Schritt zwei, die Regel als auch
Schritt drei, die Begründung, enthalten eigentlich Logik, der eine eine
strategische „wenn-dann“ Logik, der andere eine erklärende „deshalb“
Logik. Beide Logiken sind korrumpierbar, also anfällig für irrationale
Logik. Überprüft man eine Vernunft, kann man sie auf Konsistenz (Wunsch,
Regel und Begründung bauen aufeinander auf und ergeben keine
Widersprüche), aber auch auf Transparenz (die Begründung verdeckt oder
erklärt den Wunsch) und Rationalität (die Vernunft ist
naturwissenschaftlich verankert) testen. Platon nannte diese Überprüfung
in seinem Buch "Der Staat" Gerechtigkeit. Auch das Wort Idee muss noch
konkretisiert werden. Idee bedeutet grundsätzlich Wahrnehmung. Alle drei
Teile der Vernunft sind Ideen, wie auch die Welt eine Idee ist.
Das
erarbeitete Vernunftmodell hat nun ganz praktischen Nutzen. Die
Eigenschaften, Neigungen und Herangehensweisen von Persönlichkeitstypen
steuert sich nämlich ursprünglich aus grundlegenden Wünschen wie
Sicherheit, Bequemlichkeit, Sozialkontakt/-distanz, Geltung, Macht,
Freiheit, Gestaltung, Empathie, Ordnung, Neugier, Belohnung, körperliche
und geistige Betätigung. Verkäufer zum Beispiel kennen die Wünsche
ihrer Kunden. Wünsche konkurrieren miteinander und können sich sogar
neutralisieren. Kooperation und Verstärkung gibt es aber auch.
Einer
der interessantesten Wünsche, welcher das neoliberale Zeitalter prägt,
ist Geltung (sozialer Status). Geltung bevorzugt Extroversion, Intuition
und Urteilen. Geltung stärkt aber auch die Neigung zum Lügen und
Imitieren und damit zu irrationaler Logik, mit der die Begründung von
Regeln und Handlungen erfolgt. Geltung konkurriert mit Empathie,
Sicherheit und Bequemlichkeit und wird verstärkt durch Neugier, Macht
und Gestaltung. Weitere Wünsche, die mit irrationaler Logik verknüpft
sind, sind Sicherheit, Gestaltung, Sozialkontakt und Macht. Mit diesen
fünf hat man schon das ganze Drama der Propaganda und Fake News im Blick.
Die
Konkurrenz und Kooperation der grundlegenden Wünsche macht das
Vernunftsmodell auch geeignet für die Persönlichkeitsgestaltung von
künstlichen Intelligenzen. Grundwünschen können hier Werte zugewiesen
werden, aus diesen Werten ergeben sich Differenzen (Debuffs)
konkurrierender Wünsche und Additionen (Buffs) unterstützender Wünsche,
aus diesen Settings können dann die Regelwerke für das Handeln des
Charakters erstellt werden, die Begründungen für diese sowie die inneren
Konflikte.
Wie beim Aufstellen von
mathematischen Modellen können Randbedingungen aufgestellt werden,
welche die Wunscherfüllung beeinflussen und die bei der Regelaufstellung
beachtet werden müssen. Randbedingungen können zum Beispiel Klima,
Gesetze, Ressourcen etc. sein. Wunscherfüllung kann scheitern, wenn der
Wunsch oder die Regeln zum Beispiel illegal sind. Will man gegen die
Randbedingungen spielen, werden oft irrationale Logiken benutzt, es wird
also betrogen. Alternativ können die lokalen Randbedingungen außer
Kraft gesetzt werden. Manchmal müssen die Randbedingungen auch erst
ermittelt werden. Ideal ist der Pfad des geringsten Widerstandes durch
die Randbedingungen. Zu den Randbedingungen gehören auch
Körperfunktionen und Geistesfunktionen wie Gefühle und Gedächtnis.
Unklar
definierte Wünsche sind eines der größten Menschheitsprobleme
überhaupt, etwa wenn man nach Glück oder Zufriedenheit strebt. Was aber
bedeutet das genau? Deshalb können sowohl Wünsche als auch Regeln
geplant und entwickelt werden. Zur Regelfindung kann Induktion und
Deduktion benutzt werden, also Trial-and-Error oder es wird auf
Erfahrungen zurückgegriffen, aus denen Regeln abgeleitet werden können.
Zur Erfüllung eines Wunsches ist es hilfreich, wenn einander
unterstützende Vernünfte einen Kanon ergeben.
Kognitive
Dissonanz kann auftreten, wenn man einem Wunsch gefolgt ist, der sich
als Fehler erwiesen hat. Eventuell war der Wunsch gar kein eigener, sondern ein gesellschaftlich oder familiär eingepflanzter. Sie kann auch
auftreten, wenn irrationale Logik zum Selbstbetrug verwendet wurde.
Mit
jeder Vernunft treten Unterwünsche in Erscheinung, die der Absicherung
sowie der Konservierung des Wunsches, der Regeln, der Begründungen und
der geschaffenen Strukturen dienen. Daraus ergibt sich Logistik
(Beschaffung), Progress- und Prozessmanagement (Kontrolle), Sanierung,
Restaurierung, Tradition und Geschichtsschreibung (Dokumentation).
Hier
nun können wir die Vernunft endlich zirkularisieren. Regeln, Begründungen
und Kontrolle (Wahrnehmung) sind alles Strategien, die bei der Erfüllung
des Wunsches helfen können. Es geht am Ende also nur von Wunsch über
Strategie wiederum zu Wunsch.
Betreiben wir nun
ein wenig Horkheimer-Adorno. Der Wunsch nach Wiederholung des Wunsches
erzeugt einen Prozess. Dies stellt den Machtanspruch über die
Randbedingungen dar. Der Wunsch nach Optimierung des Prozesses
manifestiert diesen Anspruch noch mehr, geht es weiter bis zu
Vereinheitlichung und Standardisierung des Prozesses, kommt noch die
Deutungsmacht dazu. Der Wunsch nach Dokumentation bedeutet Machtanspruch über die Zeit. Der Wunsch nach Vorteilsnahme durch den
Prozess bedeutet Machtanspruch über andere Individuen (geistiger Besitz,
Patent- und Urheberrecht). Der Wunsch zum destruktiven Missbrauch des
Prozesses dient oft der Machtergreifung, dem Machterhalt oder der
Vergeltung. Durch den Missbrauch oder negative reale Folgen wird der
Prozess negativ emotionalisiert und ggf. entwertet und zerstört (siehe
Atomenergie).
So können Prozesse auch taktisch behindert
werden, indem sie irrational negativ emotionalisiert werden (siehe
Windenergie). Fügen wir hier noch den Begriff der positiven Revolution
durch Etablierung, Optimierung und Vereinheitlichung von Prozessen und
den der negativen Revolution durch Zerstörung und Entwertung von
Prozessen hinzu.
Jeder Machtanspruch unterliegt
der Möglichkeit des Missbrauchs. Positive Revolution kann auch negative
Revolution zur Folge haben. Der individuelle Prozess selbst entspricht
nicht der Vernunft, sondern seine Abstraktion bzw. das Wissen darüber.
Adorno
setzt Vernunft und Aufklärung gleich als Erfassung von Unbekanntem in
Mengen und deren Beziehungen untereinander. Dies führt ihmzufolge zu
einer starken Reduktion an Vielfalt in der Wahrnehmung und zu einer
Entfremdung in der Wahrnehmung, da man sich nicht mehr aufs
Gegenständliche konzentriert, sondern auf das Abstrakte. Außerdem sind
alle Formeln, die aus den Mengen an natürlichen Phänomenen und ihren
Relationen abgeleitet werden, korrumpierbar durch irrationale Logik, ob
strategisch oder zufällig. Das bedeutet, dass rationale Vernünfte immer
wieder neu erstritten werden müssen, ja regelmäßig wie von Unkraut
befreit werden müssen.
Mit jeder Vernunft
können aber auch Kopien entstehen (andere Personen entwickeln einen
ähnlichen Wunsch) oder auch Veränderungswünsche. Da jeder Schritt einer
Vernunft neue Vernünfte erzeugen kann, ist die entstehende Struktur wie
bereits erwähnt netz- oder baumartig. Die Visualisierung einer Vernunft
kann deshalb in einer Mindmap erfolgen. Das Gedächtnis bestimmt, wie
entwickelt sich ein Wunsch präsentiert. Wünsche können wie Matrioschkas
ineinander verschachtelt sein, man kann dann von einer Vision sprechen.
Frei nach Schopenhauer ist die niederste Form des Wunsches der Wille,
etwas, das wir heute Bedürfnis nennen würden. Wenn wir nun dieses
Bedürfnis dem Wunsch noch voranstellen, haben wir eine Erklärung dafür,
dass viele Menschen das eine wollen, sich aber etwas anderes wünschen
oder gar nicht wissen, was sie wollen, wenn sie sich etwas wünschen.
Die
höchste Form des Wunsches ist die Vorstellung (Achtung, nicht
Wahrnehmung), die wir schon als Vision benannt haben. Zerstörerisch oder
kriminell wird der Mensch, wenn er versucht, seinen Wunsch gegen
ungünstige Randbedingungen durchzusetzen. Das kann durch Dummheit
geschehen, wenn man die Randbedingungen nicht zu ermitteln imstande ist,
aber auch durch kühle intellektuelle Berechnung. Der Kampf gegen die
ungünstigen Randbedingungen ist aber auch der Stoff für
Heldengeschichten und wissenschaftliche Durchbrüche.
Ab
wann nun ist ein Mensch vernunftbegabt? Wenn er in der Lage ist, zu
begründen. Die Sprache ist also eine notwendige Voraussetzung. Kritische
Vernunft bedeutet die Möglichkeit der Überprüfung oder Hinterfragung der
Vernunft auf Transparenz, Konsistenz und Rationalität sowie der
Abgleich mit und die Bildung der kollektiven Vernunft.
In
der der Mathematik ist die Vernunft aufgebaut aus Axiom,
Regel-Postulat, Formulierung der Randbedingungen und der
Beweis-Vermutung, welcher später noch der Beweis folgt. In der
physikalischen Realität kann nichts bewiesen werden, es können nur
Fakten überprüft werden. Vernunftsbegründungen können deswegen nicht nur
rational, sondern auch strategisch sein.
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