Montag, 29. November 2021

Parallelwelten und Alternativwelten

Parallelwelten bedeuten unterschiedliche gelebte Rollen mit unterschiedlichen Realitätswahrnehmungen oder aufgeschobene Entscheidungen. Man ist zum Beispiel gleichzeitig Kind und Elternteil, hat einen Zweitjob, etc. Das existiert für jeden Menschen und bedeutet eine erlaubte Sequenzierung der Zeit (gefühlte Parallelisierung).

Alternativwelten resultieren aus getroffenen Entscheidungen und abgelegten bzw. abgelehnten Rollen oder auch zurückliegenden Naturereignissen und geschichtlichen Wendepunkten. So könnte durch ständige Bifurkation oder Gabelung der Ereignisse in verschiedene Alternativen das sogenannte Multiversum entstehen. Diese Art Parallelisierung „was-wäre-gewesen-wenn“ funktioniert aber nicht, denn sie bedeutet eine Vervielfältigung der Materie ohne Energiebereitstellung und verletzt damit den Energieerhaltungssatz. Ein Universum kann sich nicht durch Zellteilung vermehren.

Selbst wenn die Materie statt dessen sequenziert würde, also in rascher Folge zeitlich-räumlich verschoben um Gleichzeitigkeit zu simulieren, würde das örtliche überlichtschnelle Bewegungen ermöglichen, was wir real nicht erleben. Sequenzierung oder sogar auch Parallelisierung virtueller Materie kann allerdings stattfinden, denn in der virtuellen Realität existiert so etwas wie Speicherplatz und Sicherheitskopien und für diese wird extra elektrische Energie bereitgestellt.

Alternativwelten sind also eine rein menschliche Erfindung und sind dem "Leben nach dem Tod" ähnlich. Sie sind, wie Götter und Superhelden, ein geistiges Axiom, dem in der Realwelt nichts entspricht ausser ihrem elektromagnetischen Geister-Abbild, ein Produkt irrationaler Logik. Es besteht kein physikalisches Indiz, sondern nur ein starker menschlicher Wunsch, Fehler rückgängig zu machen.

Eine Sequenzierung der Materie würde erst durch Zeitreisen ermöglicht. Dann könnte man zwischen Zeitlinien hin- und herspringen. Lasst uns hoffen, dass so etwas nie erfunden wird.

Literarische Ansätze der Überlagerung von Informationstechniken geistiger und maschineller Natur mit der physikalischen Realität findet man in Jack Finneys "Das andere Ufer der Zeit", Blake Crouchs "Gestohlene Erinnerung" und Michael Atamanovs "Die Unterwerfung der Wirklichkeit". Die wunschbasierte Veränderung der Wirklichkeit durch geistige oder informationstechnologische Steuerung wird dort am offensichtlichsten dargestellt. Altbekannte Beispiele für wunschbasierte Pseudowissenschaft sind der Stein der Weisen und das Perpetuum Mobile.

Als nächstes noch die Binsenweisheit, dass  die Zukunft einer Alternativwelt sehr ähnlich ist, denn auch sie wird geistig projeziert, wenn auch nicht nachträglich. Im Gegensatz zur Alternativwelt kann man sie aber wirklich beeinflussen, solange, bis sie Gegenwart wird.

Nun noch schnell die Variante, dass das gesamte Multiversum in allen seinen verschiedenen Konfigurationen nicht entsteht, sondern schon existiert, inklusive aller verschiedener Entscheidungswege identischer Individuen. Das ist grundsätzlich nicht unmöglich, aber extrem unwahrscheinlich. Schon auf unserem einen Planeten existieren identische Individuen nur als eineiige Zwillinge. 

Dass gar auf einem anderen Planeten in einem anderen Universum ein identisches Individuum vor der gleichen Entscheidung steht wie auf der Erde hier ist so unwahrscheinlich, dass sogar die Unendlichkeit bei der Frage rot anlaufen würde, ob sie das möglich machen kann.Tatsächlich stehen aber auf unserem Planeten recht viele ähnliche Individuen vor ähnlichen Entscheidungen. Anstatt sich in einem anderen Universum auf einer Suche nach Antworten zu begeben, kann man also vor seiner eigenen Haustür anfangen. 

Bleiben wir nun bei der biologischen Analogie von Multiversen und Zellverbänden. Wären Universen tatsächlich dicht gepackt wie Zellen in Lebewesen oder Atome in Festkörpern, könnte sich unser eigenes Universum nicht (mit tatsächlich teilweise Überlichtgeschwindigkeit durch Raumausdehnung) ausdehnen, ohne andere Universen zu komprimieren oder mit ihnen zu kollidieren. Atome im Gas hingegen können sich frei bewegen und diese Analogie wäre auch sinnvoller. Das Multiversum würde dann aus diskreten Materiewolken bestehen, die sich einen Raum teilen. Es gibt ja auch die Branwelttheorie, nachdem Universen mehrdimensional gestapelt sind, so dass sie sich aus dem Weg gehen können. Warten wir hier am besten auf die Beweise dieser amüsanten Geschichte. Höhere Dimensionen dienen meist rein mathematischen Zwecken, der reale Raum bleibt 3-dimensional. Mehrdimensional geordnete Darstellungen können in der 3D-Realität recht unordentlich aussehen. Wie auch immer, wenn unser Universum sich mit einem anderen trifft, werden wir es daran merken, dass Galaxien plötzlich in die falsche Richtung fliegen.

Der höherdimensionale Raum hat viele Autoren zu der Idee des Hyperraums bewogen, in dem es sich mit Überlichtgeschwindigkeit reisen lässt, denn Projektionen des höherdimensionalen Hyperraums ließen sich ja so zurechtdrehen (oder verzerren oder "falten"), dass der Abstand zwischen 2 Punkten im niederdimensionalen Raum kürzer wird.

Auch mit der Zeit wird gern geometrisch herumgespielt, etwa könnte die Zeit die Form einer Helix haben, wie in Matthew Reillys Roman "The secret runners of New York". Und dann, wenn die Helix verbogen wird, überlappen Vergangenheit und Zukunft miteinander. Blöd nur, dass die Zeit überhaupt keiner Geometrie gehorcht, denn sie ist durch sich bewegende Materie oder Energie definiert sowie durch die Vermehrung der Unordnung (Entropie). Und hierher passt genau der Spruch, die Zeit sei eine Illusion. Was wir als Zeit messen, ist verkodiert in den Bewegungen unzähliger Atome und Objekte. Weder kann man den gesamten Kode für eine beliebige Vergangenheit berechnen, noch für eine beliebige Zukunft. Und selbst wenn man diese ungeheuer komplexe Konfiguration berechnen könnte, wer bringt all die Objekte dann zum gewünschten Ort? Die Relativität lässt es immerhin zu, dass Objekte unterschiedlich schnell altern, wenn sie sich unterschiedlich schnell bewegen. Dadurch lässt sich der Fluss der Zeit relativ zueinander und das Altern sehr lokal auf die sich schneller bewegenden Objekte beschränkt verändern. Das wären ungefähr "Reisen in die Zukunft", aber ohne Rückfahrkarte und deshalb ohne Einfluss auf die Vergangenheit.

Eine andere bekannte Idee ist das holographische Universum. Bedeutet das nun, das unser Universum auf irgendeiner kosmischen Glasplatte gespeichert ist? Nein, keinesfalls, diese Idee spricht statt dessen wiederum über unser Universum als eine Projektion aus dem höherdimensionalen Raum, also über eine mathematische Methode, das 3D Universum einfacher zu erklären. Natürlich wäre es dem menschlichen Ego sehr zuträglich, das Universum als Information zu verstehen, die manipuliert werden kann und gleichzeitig einen Schöpfer der Information zu vermuten. Ein bisschen ähnlich verrückt ist der Gedanke von Portaltransportation oder Beamen, also das Versenden von Dingen oder Lebewesen als Information. Selbst wenn wir irgendwann in der Lage wären, andere organische Materie zu drucken als Polymere, auf atomarem Level, aufgrund der Kleinheit von Atomen würde dieser Druckprozess Jahre dauern, abgesehen von der Schwierigkeit, Flüssigkeiten dreidimensional zu drucken.

Zum Universum als eventuell manipulierbares Informationspaket (Informationstheorie) passt auch der Ansatz, daß Gott bei der Erschaffung des Universum mehrere tausend Naturkonstanten gerade so hingefummelt hat, daß ein menschenfreundliches Konstrukt dabei herauskam. Richtig ist es aber genau anders herum. Der Mensch hat die Naturkonstanten erst nach seinem Auftreten durch Beobachtung seiner Umgebung definiert. Das gilt ganz besonders für nicht direkt messbare Konstanten. Eine interessante Sammlung pseudowissenschaftlichen Unsinns dazu ist Koji Suzukis "Der Graben".

Und zu guter Letzt die Analogie zur Quantentheorie. Ja bei kleinsten Teilchen treten skurrile Phänomene auf, wie die Kommunikation zwischen weit voneinader entfernten Teilchen und die Wegeunsicherheit bei der Bewegung (mehrere Wege sind gleich wahrscheinlich). Diese Phänomene lassen sich aber nicht in der makroskopischen Welt beobachten. Die Übertragung von Quantenphänomenen auf die makroskopische Realität a la Schrödingers Katze dient nur der Veranschaulichung und hat sonst gar keine Bedeutung.

Fazit: Die Mathematik ist eine Geisteswissenschaft und keine Naturwissenschaft. Mathematische Modelle müssen also nicht unbedingt eine physikalische Bedeutung haben, selbst wenn sie die physikalische Wirklichkeit berechnen helfen. 

Ein Beispiel: physikalische oder chemische Daten lassen sich durch mathematische Funktionen korrelieren. Diese Funktionen dienen als Hilfslinien, um fehlende Datenpunkte zu überbrücken. Das bedeutet aber nicht, dass die Tendenz der Daten zwingend durch den Funktionstyp (zum Beispiel exponentielles Wachstum) beschrieben wird, denn oft kann man mehrere Funktionstypen durch eine Datenwolke legen, die die Daten annähernd gleich gut beschreiben.

Auch mehrdimensionales Rechnen ist in mehreren Wissenschaften notwendig, zum Beispiel bei chemischen Verbindungen aus mehr als 3 Stoffen oder Elementen, bei Materialeigenschaften oder ungeordneten Kristallen. Das ermöglicht eine Berechnung, eine räumliche physikalische Bedeutung hat es nicht.


 

 


 

Donnerstag, 14. Oktober 2021

Gestaltung des Geistes

Was für ein schöner Titel. Aber bauen wir jetzt auf dem Vorangegangenem auf. Wir definieren den Geist als die Gesamtmenge aller Vernünfte einer Person. Der Verstand wiederum war ja schon als Summe derjenigen Hirnfunktionen, die den Input auswerten und mit den ausgebildeten Vernünften verwerten, festgelegt. Der Verstand benutzt also den Geist und der Geist beeinflusst den Verstand. Es ist also von äußerster Wichtigkeit, dass wir den Geist richtig gestalten. Dann kann ihn der Verstand so benutzen, dass er mit seiner Umwelt vorteilhaft interagiert.

Für die Gestaltung hatten wir vier Wege ausgemacht, Addition, Subtraktion, Überlagerung und Transformation, wobei die Überlagerung durchaus Schnittmengen mit Addition und Transformation aufweist. Addition und Subtraktion können wir schnell abhaken, sie stellen Wissenszuwachs und Vergessen dar. Das gesammelte Wissen sollte miteinander harmonieren, sich ergänzen, aufeinander aufbauen, das Oberstübchen also geschmackvoll möbliert werden. Spielzeuge sollten auch nicht fehlen. Es gibt Leute, die sehr viel Spaß an ihrem Wissen haben, etwa Musiker und Künstler allgemein, Mathematiker oder Humoristen. 

Transformation, also die Verzerrung des Geistes kann man wohl durch Drogen oder Askese erreichen, aber auch durch starke negative oder positive Erlebnisse. Oft funktioniert danach der Verstand nicht mehr so richtig, weil die Werkzeuge des Geistes nicht mehr das richtige Ergebnis liefern. Wichtige Verzerrungen alltäglicher Art sind positive oder negative Glaubenssätze, wie unten noch beschrieben. Diese haben einen starken Einfluss auf den Verstand.

Am interessantesten ist tatsächlich die Überlagerung. Man kann Geister mit ihren Vernünften aufeinander abbilden, vergleichen und sogar angleichen (Vorbild). Nach dem Vergleich kann man aber eventuell auch missliebiges erkennen. Besonders interessant ist es sicher, Geister mit völlig verschiedenen Vernünften abzugleichen oder anzugleichen, wie es etwa manche Schauspieler tun.

Die Brille des Geistes, durch die der Verstand die Umwelt selektiv wahrnimmt, ist eine weitere Form der Überlagerung. Und auch sie gestaltet durch Rückkopplung den Geist.

Der erste Schritt zur Geistesgestaltung ist die Inventur des Geistes oder im Spielejargon: des Charakters. Wer hat dir welche Fähigkeiten (Vernünfte) gegeben? Die ganze Familie wird abgegrast, die Freunde, die Lehrer, die Vorgesetzten, die Bekannten und ihre Hinterlassenschaften in deinem Gehirn. 

Dann kann man das schädliche Zeug aussortieren. Am schwierigsten ist dies bei tief verankerten Kindheitserfahrungen. Dort muss man mit elterlichen Strategien arbeiten, die mit kindlichen Grundbedürfnissen konkurrierten und so kindliche Vernünfte erzeugten. Bei Kindern heißen die fundamentalen (Ordnungs-) Wahrnehmungen Glaubenssätze. Aus Ihnen entstehen die ersten Vernünfte, die zur Verstärkung, Abschwächung oder Umkehrung des Glaubenssatzes dienen sollen.

Wen das näher interessiert, der kann Stefanie Stahls „Das Kind in dir muss Heimat finden“ lesen. Glaubenssätze formen durch ihre resultierenden Vernünfte den ersten und meist unbewussten Geist eines jeden Menschen und dieser kann auch schon in einem Mindset kanonisiert sein, wenn die Glaubenssätze in eine Richtung deuten. Man kann diesen kindlichen Geist gern in mehrere Entitäten unterteilen, etwa Schattenkind und Sonnenkind.

Ist man den Kinderjahren entwachsen, kann man seinen Charakter entweder nach Vorbildern oder frei weiterentwickeln. Was kann ich gut, was  macht mir Spaß, was passt noch dazu? Was ist cool? Dabei gibt es auch einige Fähigkeiten, die man ablehnen sollte, auch wenn man Talent dafür hat, zum Beispiel kriminelle oder selbstzerstörerische Fähigkeiten wie Schlösser knacken und Trinkfestigkeit.

Ganz wichtig für die Gestaltung ist die sogenannte kognitive Dissonanz, also die Differenz zwischen Wunsch und Realität (die Randbedingungen), die Differenz zwischen eigenen Wünschen und den Wünschen anderer (ebenfalls Randbedingungen). Das eigene Ego entspricht vielleicht nicht dem was man als Realität wahrnimmt oder es entspricht nicht den Wünschen der Gesellschaft oder des Partners. Kognitive Dissonanz ist immer die Gelegenheit etwas loszulassen, etwas dazuzugewinnen oder aber auch etwas zu zerstören.

Die mächtigsten Worte bei der Gestaltung des Geistes sind übrigens nicht: "Ich denke (so), also bin ich (so)!", sondern "Ich bin (so), also handle ich (so)!". Ausgehend von einem Wunsch muss man entsprechend tätig werden, um den Wunsch zu erreichen. Wunschdenken ist nicht magnetisch, sondern ein fundamentaler Ausgangs- und Ausrichtungspunkt der Selbstdefinition und des folgerichtigen Handelns. Dabei muss man meistens den Weg von Anfang her gehen und kann nur selten irgendwo in die Mitte reinspringen.

Will man zum Beispiel mit dem Rauchen aufhören, lautet der Satz "Ich bin Nichtraucher, also rauche ich nicht."

Bei der Behandlung von Depressionen ist ja ein zentraler Satz, "Meine Gedanken sind nicht ich". Dem möchte ich widersprechen. Sie sind Ich, aber mittels kognitiver Dissonanz kann man sie als fremd erklären und damit verabschieden. Ebenfalls widersprechen möchte ich der Meinung, dass man negative Zwangsgedanken nicht unterdrücken soll. Das kann aber ein sehr probates Mittel (emotional thought stopping), mit dem diese Gedanken nicht etwa priorisiert, sondern ganz im Gegenteil herabgewertet werden, bis sie manchmal verschwinden. Vielleicht ist es wichtig, dabei zu unterscheiden zwischen Problemen, die gelöst werden müssen und solchen, die gar keine Lösung (mehr) haben.

Eine literarische Verarbeitung des Themas findet man bei Dan Sugralinovs "Next Level"- Trilogie.

Mittwoch, 13. Oktober 2021

Quasikristalle 2

Das Nachfolgende ist das Manuskript eines Artikels, der später leider nur in stark verkürzter Form gedruckt wurde:

Bis zur Entdeckung von Shechtmanit, einem ikosaedrischen Quasikristall im Jahr 1982 durch Daniel Shechtman ist feste Materie in kristalline und glasartige Stoffe unterteilt worden. Quasikristalle sind ein neuer Ordnungszustand kondensierter Materie mit aperiodischen, langreichweitig geordneten Strukturen. Ihre Beugungsmuster zeigen scharfe Bragg-Reflexe und nicht-kristallographische Symmetrien. Neben der ikosaedrischen Symmetrie wurden oktagonale, dekagonale und dodekagonale Symmetrien beobachtet. Quasikristalle sind im Wesentlichen Verbindungen, die  zur  Klasse der komplexen intermetallischen Verbindungen gehören. Die Entdeckung von Dan Shechtman führte  zu  einem  Paradigmenwechsel in der Festkörperforschung.  Dafür wurde er 2011 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Was ist ein Quasikristall? Im April1982 machte Dan Shechtman vom Technion Institut in Israel während eines Forschungsaufenthalts am U.S. National Bureau of Standards  -  jetzt das National Institute of Standards and Technology, Gaithersburg, MD, USA - eine Beobachtung, die ein Axiom in Frage stellte, das Generationen Studierender gelernt hatten: Ikosaedrische Symmetrie ist unvereinbar mit der translationsperiodischen Struktur von Kristallen. Die Frage ,,Was ist kristalline Materie?" musste daraufhin neu gestellt werden und führte zu einem Paradigmenwechsel  in  der Festkörperforschung. Dafür wurde Shechtman mit den Nobelpreis für Chernie geehrt  [1]. Was war geschehen? Das  Elektronenbeugungsmuster einer chemischen Verbindung nahe der Zusammensetzung Al6Mn zeigte ein Punktmuster mit scharfen Spots und der Symmetrie des Ikosaeders [2]. Ein Elektronenbeugungsmuster entsteht, wenn ein Elektronenstrahl geeigneter Wellenlänge Materie durchstrahlt. Durch Wechselwirkung mit der Materie werden die Elektronen gestreut und es bildet sich durch Interferenz ein Beugungsmuster aus Spots auf einem Detektor.

Das Ikosaeder ist ein Platonischer Körper aus zwanzig gleichseitigen Dreiecken, mit dreißig Kanten und zwölf Ecken und 2-,  3-  und  5-zähligen Drehachsen. Drehungen um diese Drehachsen mit jeweils 360°/n  =  180°, 120°, und 72° sowie ganzzahligen Vielfachen davon sind Symmetrieoperationen des Ikosaeders, d.h. er wird wieder auf sich selbst abgebildet. Insgesamt besitzt das Ikosaeder fünfzehn 2-, zehn 3- und sechs 5-zählige Drehachsen, ein Inversionszentrum und zahlreiche Spiegelebenen. Die Lage dieser Symmetrieelemente relativ zueinander lässt sich mit Hilfe einer stereographischen Projektion darstellen. Ein Vergleich lässt erkennen, dass die Drehachsen der Beugungsmuster von Al6Mn  angeordnet sind wie die Drehachsen  im  Ikosaeder.  Al6Mn ist also eine ikosaedrische Verbindung. Wegen der  Symmetrie des Streuprozesses beobacht man  im  Beugungsmuster nicht 5-zählige sondern 10-zählige Symmetrie.

Die gesamte Streuintensität ist in scharfen Bragg-Reflexen, so heissen die Spots, konzentriert. Beobachtet man Bragg-Reflexe im Beugungsexperiment, dann muss das Material langreichweitig geordnet sein. Kristallstrukturen lassen sich als eine periodische Anordnung von Elementarzellen beschreiben. Sie sind daher langreichweitig geordnet und  ihre  Beugungsmuster, zeigen stets Bragg-Reflexe. Ein Muster aus Azulejo-Kacheln ist ein Beispiel einer zweidimensionalen, periodischen Anordnung, wenn  man  sich das Muster unendlich fortgesetzt denkt. Es ist translationsymrnetrisch bzw. translationsperiodisch, d.h. es gibt unendlich viele Symmetrieoperationen in Form von Bewegungen in der Ebene mit denen die Parkettierung aus Azulejo-Kacheln durch Verschiebung ohne Drehungen auf sich selbst abgebildet wird. Jede Kachel ist eine dekorierte Elernentarzelle. Diese sind translationsperiodisch angeordnet und bedecken die Ebene lückenlos und ohne Überlappung. Neben der Translationssymmetrie gibt es hier unendlich viele 2- und 4-zählige Drehachsen.

 Die klassische Kristallographie lehrt, dass nur n  =  1-, 2-, 3-, 4- oder 6-zählige Drehachsen als Symmetrieelemente eines Kristalls erlaubt sind. Somit können nur Drehungen  um  360°/n  =  0°, 180°, 120°, 90° und 60° sowie ganzzahlige Vielfache davon Symmetrieoperationen sein. Fünfzählige Drehachsen und Drehachsen mit n größer als 6 sind verboten, d. h. sie sind nicht-kristallographisch.  Im  zweidimensionalen Fall lässt sich dies einfach am  Beispiel von Parkettierungen des Fußbodens veranschaulichen. Mathematisch gesehen ist eine Parkettierung eine lückenlose Bedeckung der Ebene mit Kacheln ohne Überlappung. Parkettierungen aus nur einer Kachelsorte sind  nun  Beispiel mit Rechtecken (n  =  2), Dreiecken (n  =  3), Quadraten (n  =  4) oder Sechsecken  (n  =  6)  möglich. Fünfecke (n  =  5) können die Ebene nicht parkettieren, da stets Lücken zwischen den Fünfecken bleiben. Ein Beispiel ist die Abwicklung der Flächen eines Pentagon-Dodekaeders. Die Symmetrie des Ikosaeders ist auf Grund seiner 5-zähligen Drehachsen nicht-kristallographisch, d.h. der dreidimensionale Raum lässt sich mit Ikosaedern nicht parkettieren.

Bis zur Entdeckung von Shechtman wurde feste Materie in Kristalle und Gläser unterteilt. Die Kristalle sind nah- und ferngeordnet, während die Gläser nur Nahordnung aufweisen. Das neue Material konnte auf Grund seiner  nicht-kristallographischen  Symmetrie kein Kristall sein, aber wegen der beobachteten Fernordnung auch kein Glas. War es ein bisher unbekannter Zustand kondensierter Materie? Erst zwei Jahre später, im Oktober 1984,  gelang es Dan Shechtman mit Unterstützung von  Ian Blech, John  Cahn  und Denis Gratias seine Beobachtung in der Zeitschrift Physical Review Letters mit dem Titel ,,Metallic Phase with Long-Range Orientational Order and No Translational Symmetry" [2] zu veröffentlichen. Zuvor waren Manuskripte im Journal of Applied Physics abgelehnt bzw. in der Zeitschrift Metallurgical Transactions verzogert worden. Dies zeigt den starken Widerstand eines Teils der Wissenschaftler, die nicht akzeptieren wollten, dass die Natur gegen ein ,,Naturgesetz" verstößt. Ein namhafter Vertreter dieser Gruppe war der Doppel-Nobelpreitrager Linus Pauling. Auf Grund seiner jahrzehntelangen Erfahrungen als Strukturcherniker und als Experte  für  komplexe intermetallische Verbindungen hatte sein Wort unter Wissenschaftlern besonderes Gewicht. Komplexe intermetallische Verbindungen sind Verbindungen mit komplexen Kristallstrukturen, d. h. mit  hunderten oder tausenden Atomen pro Elementarzelle. Shechtmanit  -  so wurde die neue Verbindung aus  Al und  Mn genannt - gehört nach dem heutigen Stand der Forschung auch zu  dieser Familie. Ihre Elementarzelle erwies sich als unendlich groß! Pauling [3] erklärte die beobachtete ikosaedrische  Symmetrie des Beugungsmusters als Ergebnis einer Vielfachverzwilligung kubischer Kristalle. Dazu musste er eine kubische Kristallstruktur aus Al und Mn mehr als tausend Atomen pro Elementarzellwürfel postulieren. Fünffachzwillinge kennt man von einfachen Kristallstrukturen mit wenigen Atomen pro Elementarzelle,  zum  Beispiel von Gold oder Silber. Sie bilden sich als zyklische Kontaktzwillinge aus Tetraeder-Subeinheiten. Da Shechtmanit eine metastabile Verbindung ist, die  nur  erhalten werden kann, indem Al-Mn Schmelzen extrem schnell abgekühlt werden, ist die Probenqualität meist schlecht, d. h. kleine Bereiche der Substanz können  in Homogenität und Ordnungsgrad schwanken. Auch sind nur kleine Korngrößen von wenigen Mikrometern Durchmesser zu erhalten. Die Charakterisierung des Materials war damit schwierig und  im Wesentlichen auf elektronenoptische Methoden und die Pulverdiffraktometrie beschränkt.

Die Beobachtung von Shechtman am Shechtmanit konnte jedoch nach 1984 von vielen Wissenschaftlern aus aller Welt reproduziert werden. Seitdem sind viele weitere Verbindungen  in Systernen [4] wie AI-Cu-Li, Al-Mn-Si, Al-Co-Ni, Al-Mn-Pd, Al-Cu-Fe, Cd-Yb, Ho-Mg-Zn, Ag-In-Yb  mit Beugungsmustern  nicht-kristallographischer  Symmetrie entdeckt worden. Neben ikosaedrischer kennt man heute Verbindungen mit oktagonaler, dekagonaler oder dodekagonaler Symmetrie,  d. h. 8-, 10- oder 12-zähligen Drehachsen. Mehr als hundert thermodynamisch stabile Quasikristalle sind bisher bekannt. Sie können einphasig und in Form großer Individuen mit nahezu perfekter langreichweitiger Ordnung herstellt werden. Eine stabile ikosaedrische Verbindung ist zum Beispiel Ho8,7Mg34,6Zn56,8 [5]. Eine Vielzahl moderner Methoden der Strukturanalyse belegt das Phänomen nicht-kristallographischer Symmetrie hoch geordneter Verbindungen. Pauling irrte sich!

Die bekannten Quasikristalle zeigen Eigenschafien, wie man sie von komplexen intermetallischen Verbindungen erwartet. An einigen Quasikristallen hat man geringe elektrische und thermische Leitfähigkeiten gemessen sowie niedrige Oberflächenenergien - ungewöhnlich für  einen Stoff aus metallischen Komponenten. Bisher gibt es aber nur Nischenanwendungen wie Bratpfannenbeschichtungen und Anwendung in medizinischen Stählen. Bis 2009 waren alle Quasikristalle synthetische Materialien aus dem Labor. Nach einer jahrelangen systematischen Suche  [6] gelang es Bindi, Steinhardt, Yao und Lu einen ikosaedrischen Quasikristall der Zusammensetzung Al63Cu24Fe13 in einem Mineralagglomerat aus der Chukhotka-Region in Sibirien zu finden. Obwohl Al-basierende Intermetalle  zur  Bildung eine reduzierende Atmosphäre benötigen, stützen die in Vergesellschaftung aufgefunden Minerale den natürlichen Ursprung der Probe. ,,Ikosaedrit" Al63Cu24Fe13 wäre damit das erste quasikristalline Mineral. Bereits wenige Monate nach der Veröffentlichung von Shechtman wurde von Steinhardt und Levine [7] ein Konzept zur Erklärung  nicht-kristallographischer  Syrnmetrien langreichweitig geordneter Materialien veröffentlicht. Als Bezeichnung  für  die neue Stoffklasse schlugen sie ,,Quasikristalle" vor. Wie war es  möglich in so kurzer Zeit nach  der  Entdeckung eine  Theorie der Quasikristalle zu entwickeln? Warum verstoßen Quasikristalle nicht gegen kristallographische ,,Naturgesetze"?

Die Kristallographie in ihrer modernen Form ist die experimentelle Wissenschaft der Bestimmung der Anordnung der Atome in Festkörpern und allen damit verwandten Aspekten.  In ihren  Anfängen  ist sie entstanden als beschreibende Wissenschaft der Morphologie von Mineralen. Die Gesetzmäßigkeiten wurden zuerst im  Gesetz der Winkelkonstanz (Nicolaus Steno, 1669 am Beispiel des Bergkristalls und Jean Baptiste Rome de l'Isle in allgemeiner Form) ausgedrückt. Auf Grund  der Vermutung von Abbe Rene-Just Haüy um 1784, dass das wesentliche Merkmal der Kristalle ihre Translationsperiodizitäit ist und somit eine langreichweitige Ordnung induziert, konnte Auguste Bravais 1849 zeigen, dass jedem Kristall ein Punktgitter zugeordnet werden  kann und dass diese mit Hilfe der 14 Bravais-Gittertypen klassifiziert werden können. Die mathematische Untersuchung möglicher Symmetrien translationsperiodischer Strukturen wurde unabhängig voneinander durch Schoenflies und Fedorov durchgeführt. Alle Kristalle lassen sich einer von 230 Raumgruppentypen zuordnen. Entsprechend wurde die Kristallographie für den 1-, 2- und 4-dimensionalen Raum entwickelt. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich die Kristallographie von einer Morphologielehre zu einer Symmetrielehre entwickelt.  In  den International Tables of Crystallography A findet man die Definition eines ,,klassischen" Kristalls: Ein Objekt im n-dimensionalen Punktraum. Es heißt ein n-dimensionales Muster oder kurz Kristall, wenn es unter den Symmetrieoperationen 1) n Translationen gibt, deren Translationsvektoren tl, ....  ,tn  linear unabhängig sind und 2) alle Translationsvektoren außer dem Nullvektor 0d größer als 0 lang sind.

Der Beweis der Hypothese von Haüy, daß Kristalle ferngeordnet sind, wurde 1912  mit Hilfe eines Röntgenbeugungsexperimentes am ZnS durch Friedrich, Knipping und von Laue erstmals geführt. Kurze Zeit spater gelangen Vater und Sohn Bragg erste Strukturaufklärungen und somit auch der Beweis der Translationsperiodizität der untersuchten Substanzen. Seitdem wurden zahllose Kristallstrukturen experimentell bestimmt. Auf Grund dieser Erfolgsgeschichte wurde die Eigenschaft ,,langreichweitige Ordnung" und Translationsperiodizität  synonym verwendet. Dies ist im strengen Sinne nicht erlaubt. Translationsperiodizität erzeugt langreichweitige Ordnung, aber nicht jedes langreichweitig geordnete Muster ist translationsperiodisch. Glücklicherweise gibt es eine Messvorschrift, um Ordnung zu messen. Dies ist die schon erwähnte Beugung. Neben Elektronen können dann auch Photonen oder Neutronen geeigneter Wellenlänge genutzt werden. Durch eine Fouriertransformation (eine mathematische Transformation und damit ein Mausklick am Computer) überführt man die Messergebnisse der Beugung, die im sogenannten reziproken Raum beschrieben werden, in den physikalischen Raum. Man erhält aus der Intensitätsverteilung des Beugungsmusters eine Funktion (Pattersonfunktion), die die Korrelation zwischen den Atomen im Material beschreibt. Hohe Korrelation zwischen weit entfernten Atomen führt zu punktförmigen Beugungsmustern. Unordnung zerstört die Korrelation und damit die Fähigkeit, die Lage von weit entfernten Atomen aus der Information von nahe liegenden Atomen  zu  berechnen.

Neben der Periodizität gibt es andere Möglichkeiten, langreichweitig geordnete Strukturen zu erzeugen. Dazu gehören auch sogenannte quasiperiodische Anordnungen. In mathematischer Form ist dies seit 1947 durch die Arbeiten über fastperiodische und quasiperiodische Funktionen von Harald Bohr [8], dem Sohn von Niels Bohr, bekannt. Damit wird verständlich, warum Levine und Steinhardt so schnell eine Theorie entwickeln konnten und als Name ,,Quasikristall" vorgeschlagen haben. Sie standen auf den Schultern der Mathematiker! Der Begriff Quasikristall ist eine Abkürzung  für quasiperiodische Kristalle. Daraufhin wurde Anfang der 90-iger Jahre vorgeschlagen, die Definition eines Kristalls [9] zu ändern: Ein Festkörper ist nun ein Kristall,wenn er ein ,,im  Wesentlichen diskretes" Beugungsmuster aufweist. Nach dieser Definition sind Quasikristalle Kristalle! Die klassischen Kristalle sind die periodischen Kristalle. Ihre Beugungsmuster sind (wahrhaft) diskret. Leider ist laut der mathematischen Definition von Bohr die Periodizitat ein Spezialfall der Quasiperiodizität. Periodische Kristalle sind demnach auch quasiperiodisch. Man nennt daher alle Kristalle, die nicht-periodisch sind aperiodisch, um sie von den periodischen zu unterscheiden. Quasikristalle nennt man die aperiodischen Kristalle mit nicht-kristallographischer  Punktgruppensymmetrie. Aperiodische Kristalle mit kristallographischer Punktgruppensymmetrie sind schon vor den Quasikristallen entdeckt worden. Es sind die inkommensurabel modulierten Strukturen und sogenannte Komposit-Strukturen [l0], die aus Teilsstrukturen bestehen, welche zueinander inkommensurabel sind. Die Abweichungen von der Periodizität lassen hier als systematische Störung eines periodischen Kristalls beschreiben. Diese Störung zeigt sich  im  Beugungsmuster  in  Form von Satellitenreflexen  um  die Bragg-Reflexe einer periodischen Basisstruktur. Der Zusatz ,,wesentlich" in  der neuen Definition musste aufgenommen werden, da sich im Beugungsmuster der Quasikristalle mit steigender Intensität des Primärstrahls immer neue Reflexe zeigen. Diese neuen Reflexe liegen zwischen den ursprünglichen Reflexen. Im mathematischen Limit ist das Beugungsmuster dann "dicht" belegt. Im  Experiment bleibt das Beugungsmuster der Quasikristalle aber (im Wesentlichen) immer diskret, da die Primärstrahlintensität nicht unendlich gesteigert werden kann. Diese Definition eines Kristalls über eine Messvorschrift ist kritisiert worden. Man empfindet sie als mathematisch nicht sauber und einige stören sich auch daran, dass ein Kristall nun über den reziproken Raum und nicht mehr im Realraum definiert ist. Im wissenschaftlichen Alltag meint man periodische Kristalle, wenn man von den Kristallen spricht.

Levine und Steinhardt  [7]  entdeckten, dass sogenannte Penrose-Parkettierungen zur Beschreibung der Struktur von Quasikristallen dienen können. Penrose-Parkettierungen sind nach ihrem  Entdecker Sir Roger Penrose [11] benannt. Er konstruierte 1973 die Rautenparkettierung P3, sowie zwei weitere mögliche Parkettierungen (P1, P2).

Seine Fragestellung war, Parkettierungen der Ebene mit möglichst wenig Kachelsorten zu finden, die beim Aneinanderfügen nur nicht-periodische Muster erlauben. Ein solcher Satz Kachelsorten heißt dann aperiodisch. Das ist eine knifflige Aufgabe. Der erste aperiodische Satz Kacheln hatte mehr als 20000 Kachelsorten! Später gelang es, einen aperiodischen Satz mit 6 Kachelsorten zu finden. Schließlich konnte Penrose mit P2 und P3 die Zahl auf 2 reduzieren. Die Penrose-Parkettierung P3 ist nicht-periodisch und aus zwei unterschiedlichen Kachelsorten aufgebaut. Die blaue Raute besitzt Winkel von  72° und 108° und die gelbe Raute Winkel von 36° und 144°. Aus den beiden Rauten lassen sich in einfacher Art und Weise periodische Muster konstruieren. Sie werden erst aperiodisch, wenn sie mit Markierungen, sogenannten ,,Matching-Rules", versehen werden. Jede Parkettierung aus diesen markierten Rauten (Pfeile und Doppelpfeile) ist nicht-periodisch. Sie erlauben 8 unterschiedliche Eckkonfigurationen.

Die Markierungen werden auf den nicht-periodischen Parkettierungen meist nicht gezeigt. Man kann sich die Penrose-Parkettierung auch als ein ,,Quasigitter vorstellen, das im Quasikristall mit Atomen dekoriert ist. Eine Dekoration der beiden ,,Elementarzellen" mit Atomen kann zu Matching-Rules führen, die die Bildung einer periodischen Struktur verhindern. Aus den mit Matching-Rules versehenen Rauten lassen sich aber unendlich viele unterschiedliche nicht-periodische Rautenparkettierungen erzeugen, d. h. sie lassen sich nicht durch Verschiebungen oder Drehungen ineinander überführen. Sie sind trotzdem in einem gewissen ,,endlichen" Sinn alle äquivalent zueinander. Jeder Ausschnitt unabhängig von seiner Grösse,  z. B. ein Stern aus fünf blauen Rauten, lässt sich in jeder äquivalenten Parkettierung und auch in der Parkettierung selbst unendlich oft wiederfinden. Alle unterschiedlichen Penrose-Parkettierungen P3 sind zueinander lokal ähnlich. Sie werden deshalb zu einer ,,Lokalen Isomorphismusklasse" zusammengefasst. Jede Parkettierung der Klasse besitzt das gleiche Beugungsmuster. Auch periodische Muster besitzen die Eigenschaft der lokalen Ähnlichkeit. Alan Mackay [12] hat vor der Entdeckung der Quasikristalle die Beugungseigenschaften der Penrose-Parkettierung untersucht. Die Rautenparkettierung P3 erzeugt ein punktförmiges Beugungsmuster 10-zähiger Symmetrie. Sie ist daher im Sinne der Definition eines Kristalls quasiperiodisch, aperiodisch und quasikristallin. Die dekagonale Symmetrie des Beugungsmusters resultiert daraus, dass die Kanten der Rautenparkettierung P3 alle parallel zu Vektoren sind, die in die Ecken eines Dekagons zeigen. Mit Hilfe eines optischen Experiments lässt sich die ,,Quasikristallinität" leicht zeigen. Man kopiert dazu eine Penrose-Parkettierung auf eine Transparentfolie und durchstrahlt diese mit dem Licht eines Lasers. Die Kantenlänge der Rauten muss so lange verkleinert werden, bis an der Wand in mehreren Metern Entfernung das Beugungsmuster sichtbar wird [12]. Das Beugungsmuster entlang 2-, 3- und 5-zähliger Drehachsen wurde von Levine und Steinhard [7] für  das Analogon einer dreidimensionalen Penrose Parkettierung berechnet. Es zeigt sich eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen Model und Experiment, obwohl im Model nur die Punkte des dieses Quasigitters mit Atomen dekoriert wurden und damit eine viel zu geringe Dichte aufweist. Die Ähnlichkeit von berechneten und beobachteten Beugungsmustern deutet darauf hin, dass die Struktur von Shechtmanit in Näherung beschrieben werden kann als Dekoration eines Teils der Quasigitterpunkte mit großen, nahezu kugeligen Baueinheiten ikosaedrischer Symmetrie [13]. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte Mackay-Cluster gezeigt. Man findet ihn in den Kristallstrukturen von intermetallischen Verbindungen, die mit ikosaedrischen Al6Mn chemisch verwandt sind. Die Zwiebelschalen-Struktur des ikosaedrischen Mackay-Cluster aus besteht aus 55 Atomen. Ein Manganatom ist von 12 Al-Atomen auf den Eckpunkten eines Ikosaeders, 30 Al-Atomen auf den Eckpunkten eines Ikosidodekaeders und 12 Mn-Atomen auf den Eckpunkten eines großen Ikosaeders umgeben.

Peter Lu und Paul Steinhardt [14] entdeckten 2007 am Darb-i Imam Schrein in Isfahan, Iran, ein 5-zähliges komplexes Kachelornament aus sogenannten Girih-Kacheln. Dieses in seiner Komplexität beeindruckende Beispiel islamischer dekorativer Kunst stammt aus dem Jahr 1453. Eine Analyse des Musters zeigt, dass es nahezu perfekt nicht-periodisch ist. Dazu projizierten Lu und Steinhardt das Kachelmuster des Schreins auf das dekagonale Muster der Penrose- Parkettierung P2 (Drachen und Pfeile).

Von 3700 Kacheln erwiesen sich nur 11 Kacheln als ,,defekt", d. h. sie liegen nicht nach den Regeln der aperiodischen Anordnung. Da es unmöglich erscheint, solche komplexen Muster mit dieser Präzision allein mit Zirkel und Lineal und Matching-Rules zu konstruieren, muss man davon ausgehen, dass die islamischen Künstler in der Lage waren, eine Mathematik zu verwenden, die erst 500 Jahre später ausgearbeitet wurde. Dazu werden Kacheln in kleinere Kacheln zerlegt, die selbstähnlich zu den Ausgangskacheln sind. Man erhält dann einen Ausschnitt der Parkettierung mit kleineren Kacheln. Im folgenden Schritt werden diese durch Skalierung mit einem gemeinsamen Faktor wieder auf die ursprüngliche Größe gebracht. Der Prozess wird iterativ fortgesetzt, bis eine beliebig große Fläche parkettiert ist. Ein solcher Prozess erzeugt Selbstähnlichkeit und lässt sich mit einer Substitutionsregel beschreiben. Dies soll an einem Beispiel erläutert werden, das etwas einfacher ist als die Penrose-Parkettierung. Legt man auf den Overheadprojektor zwei Penrose-Parkettierungen auf Transparentfolien übereinander und verschiebt diese ein wenig zueinander, dann zeigt sich ein Moire-Muster aus parallelen Linien [7]. Diese können als Netzebenenschar gedeutet werden. Die Abstände zwischen den Netzebenen sind nicht wie im periodischen Kristall äquidistant, sondern entsprechen der Abfolge der sogenannten aperiodischen Fibonacci-Reihe. Der Abstand zwischen zwei Linien ist entweder kurz (S) oder lang (L). Das Streckenverhältnis L/S ist die irrationale Zahl tau =  (1+(5^0,5))/2 = 1,618. Das ist der Goldene Schnitt, den man als Verhältnis von Diagonale zur Kante im regulären Fünfeck findet. Die Fibonacci-Reihe taucht in der Natur überall auf. Beispielsweise findet man sie in der Anordnung von Blättern und Samenkernen. Die Fibonacci-Reihe wurde erstmals durch Leonardo von Pisa, genannt Fibonacci, eingeführt. Dazu analysierte er die Kaninchenpopulation von Paaren von Babys (S) und Erwachsenen (L). Die Population wächst sehr schnell, da es nur einen Monat für jedes Baby-Paar dauert, erwachsen zu werden (S  zu  L) und  für  jedes Erwachsenenpaar, ein neues Babypaar zu werfen  (L zu L + S). Dies lässt sich insgesamt als Substitutionsregel ausdrücken: S zu L und L zu LS. Wenn S und L durch eine kurze (S) bzw. lange Strecke (L) dargestellt werden, beträgt das Streckenverhältnis L/S = tau, wie in der Penrose-Parkettierung. Bei einer Iteration der Fibonacci-Sequenz wird iterativ in immer kleiner werdende Segmente entsprechend der Substitutionsregel zerlegt und dann die Liniensegmente auf die ursprüngliche Länge zurückskaliert. Nach unendlich vielen Iterationsschritten erhält man ein eindimensionales, aperiodisches Quasigitter mit zwei Elementarzellen. Ein eindimensionaler Fibonacci-Quasikristall mit Manganatomen auf den Quasigitterpunktenzeigt ein diskretes Beugungsmuster.

Alle Bragg-Reflexe des eindimensionalen Quasikristalls können mit Hilfe von ganzen Zahlen indiziert werden. Die Anzahl der Bragg-Indizes, die notwendig sind um ein Beugungsmuster zu indizieren, hat den Rang R. Im Fall der Quasikristalle ist der Rang R stets größer als die Dimensionalität D des Raumes, während für periodische Strukturen R = D gilt. Die Substitutionsmethode eignet sich zur Erzeugung von aperiodischen Parkettierungen, nicht aber für eine systematische Strukturanalyse von Quasikristallen. Darum wurden nach der Entdeckung von Shechtman die konventionellen Methoden der Strukturanalyse höherdimensional erweitert. Es handelt sich hier nicht um Chemie oder Physik im höherdimensionalen Raum, sondern lediglich  um eine bequeme Art und Weise, aperiodische Strukturen mathematisch zu beschreiben. Darum wird der Quasikristall in eine höherdimensionale periodische Struktur eingebettet, deren Dimensionalität dem Rang des Quasikristalls entspricht.

Man denke sich den 1D-Fibonacci-Quasikristall in eine zweidimensionale periodische Struktur eingebettet, die sich über ein quadratisches Gitter beschreiben lässt, welches mit Liniensegmenten dekoriert ist. Diese heißen Besetzungsbereiche und sind senkrecht zum Fibonacci-Quasikristall ausgerichtet. Der physikalische Raum mit dem Fibonacci-Quasikristall schneidet die periodische Struktur mit einer irrationalen Steigung, die dem goldenen Schnitt entspricht. Die Schnittpunkte der  Liniensegmente mit dem physikalischen Raum erzeugen die Quasigitterpunkte. Ordnet man jedem Liniensegment eine Atomsorte zu, entsteht der Quasikristall. Die periodische Beschreibung im höherdimensionalen Raum ermöglicht die Strukturlösung und -verfeinerung der Atompositionen in ähnlicher Art und Weise, wie dies für periodische Kristalle geschieht. Wesentliche Aufgaben der Strukturanalyse sind: 1) Bestimmung der periodischen Elementarzelle und der  Symmetrie  im  höherdimensionalen Raurn, 2) Bestimmung des Ortes und der geometrischen Gestalt der Besetzungsbereiche und 3) Zuordnung der Atomsorten in den Besetzungsbereichen. Für einen ikosaedrischen Quasikristall ist die Elementarzelle ein 6D-Hyperkubus und die Besetzungsbereiche sind 3D-Polyeder. Für eine 3D-Penrose Parkettierung, ein einfaches Modell für einen ikosaedrischen Quasikristall, ist der Besetzungsbereich ein Rhombendreissigflächner. Beispiele für höherdimensionale Beschreibungen von polygonalen und ikosaedrischen Quasikristallen sind in [4] zu finden. Lange arbeiteten Werkstoffwissenschaftler, Physiker und Chemiker voneinander isoliert im Bereich metallischer Materialien. Die Komplexität dieser Verbindungen erforderte es, das Wesen der Quasikristalle gemeinsam zu  erforschen. Dan Shechtmans Entdeckung hat so das Fundament gelegt, in den kommenden Jahrzehnten die Klasse der metallischen Materialien besser zu verstehen.

[1] ,,The Nobel Prize in Chemistry":
http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/chemistry/laureates/2011/
[2] D. Shechtman, LBlech, D. Gratias, J. Cahn, Physical Review Letters 53 (1984) 195 1.
[3] L. Pauling, Nature 317(1985) 512.
[4] W. Steurer, S. Deloudi, "Crystallography  of  Quasicrystals", Springer, Berlin 2009.
[5] AMES lab.,  US  Department of Energy, http://cmp.physics.iastate.edu/canfield/photos.html
[6] L.  Bindi, P. J. Steinhardt,  N. Yao, P. J. Lu, American Mineralogist 96 (2011) 928.
[7] D. Levine, P.  J. Steinhardt, Physical Review Letters 53 (1984) 2477.
[8] H. Bohr, "Fastperiodische Funktionen", Springer, Berlin 1932.
[9] IUCR, Acta Crystallographica A48 (1992) 922.
[10] P. M. de Wolf, Acta Crytallographica A30 (1974) 777.
[11] R.  Penrose, Bulletin of The Institute of Mathematics and its Applications  10 (1974) 266.
[12] A. L. Mackay, Physica, 114A (1982) 609.
[13] P. J.  Steinhardt,  D.  P.  DiVincenzo, "Quasicrystals: The State of the Art, World Scientific, Singapore 1991.
[14] P. J. Lu, P. J. Steinhardt, Science 315 (2007) 1106; Supporting Online  Material.

Donnerstag, 19. August 2021

Eine Geschichte über Geschichten

Es war einmal eine Geschichte die lebte ganz allein. Da begann sie sich selbst Geschichten zu erzählen und die waren ihre Kinder und ihre Heimstatt und sie schützten sie, weil sie an sie glaubte. Doch eines Tages bemerkte die Geschichte, dass ihre Kinder sich alle sehr ähnlich waren und ihre Heimstatt war ein hoher, enger Turm, aus dem ein Entkommen unmöglich schien. Und auch den Kindern dürstete nach einem Entkommen und Gesellschaft. Da erschien ihr in bitterster Not eine Geisterfee, die ihr folgenden Zauberspruch gab:

"Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern."

Kaum gesprochen, erschien eine Strickleiter am engen Fensterchen des hohen Turmes und die Geschichte und ihre Kinder konnten hinabsteigen. Nun dauerte es nicht lange, bis sie an einen Ort kamen, wo andere Geschichten sich trafen um sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Das war der bislang einsamen Geschichte neu und sie schickte ihre Kinder zu den anderen zum spielen. Nun war es  aber so, dass die Geschichtenkinder ob ihrer Isolation sehr schwächlich waren und dünn. 

Da geschah es, dass die anderen Geschichtenkinder kamen und sie veränderten, so dass sie farbenfroher und robuster wurden und auch die Kinder zusammen neue Kinder erfanden. Auch die Eltern mischten sich ein und demontierten einige der schwächlichsten Geschichten in Teile. Da wurde die bislang einsame Geschichte traurig, da sie nur dies angeblich Schlechte sah und nicht die Vorteile und begann ihre Kinder zu beschützen, indem sie Gitter darum baute die hießen „Meine Kinder sind eben anders, sie können nicht mit den anderen spielen und dürfen nicht demontiert werden."
Das begann die anderen Geschichten aufzuregen, denn nun mussten sie immer um die Käfige herumlaufen und das war beschwerlich und da rissen sie die Käfige ab und bauten daraus eine Geschichte, die nur die einsame Geschichte wieder ganz allein einschloss, während ihre Kinder draußen blieben. 

Da die Gefängnisgeschichte sehr überzeugend war, glaubten sie alle einschließlich der Eingeschlossenen. Und nun verstand erst die eingesperrte Geschichte den Zauberspruch und sie sah, dass Geschichten sogar Macht über ihre Erfinder haben und sie zerstören können. Des weiteren leuchtete ihr ein, dass es möglicherweise auch eine Geschichte war, die über sie alle erzählt wurde und in der sie alle lebten. Und war es dann nicht möglich dass, auch diese große Geschichte irgendwann einmal demontiert wurde und all die Abgrenzungen hatten keinen Sinn? Nun war es nicht ausgeblieben, dass einige mitleidige Geschichteneltern sie in ihrem Gefängnis besuchten (sie wurden von den anderen auch als Verräter beschimpft), um mit ihr zu diskutieren und denen erzählte sie eines Tages von ihrer Erkenntnis.

Das kam nach draußen und da wurde das Gefängnis abgebaut und Zäune wurden allgemein verboten. Und sie erkannten auch ihre Gram über die demontierten Kinder und führten sie zum Ort der Zerbaunis.
Da sah sie, dass die Einzelteile nicht tot waren, sondern ein eigenes, kleines Leben weiterführten. Und von Zeit zu Zeit kam auch Eltern oder Kinder vorbei und borgten sich was für etwas Größeres. Es war ein Ort des Lebens, nicht des Todes. Und danach begann die einsame Geschichte erst, die anderen Geschichten zu lesen und mit ihnen neue Geschichtenkinder zu erfinden. Doch auch Geschichten sind
vergesslich, denn sie sind dem Diktat der umgeblätterten Seite unterworfen. Und wenn keiner zurückblättert, wird wohl dieselbe Geschichte, von der die einsame Geschichte nur vermutet hatte, dass es sie gibt, noch einmal erzählt werden.