Montag, 29. November 2021

Parallelwelten und Alternativwelten

Parallelwelten bedeuten unterschiedliche gelebte Rollen mit unterschiedlichen Realitätswahrnehmungen oder aufgeschobene Entscheidungen. Man ist zum Beispiel gleichzeitig Kind und Elternteil, hat einen Zweitjob, etc. Das existiert für jeden Menschen und bedeutet eine erlaubte Sequenzierung der Zeit (gefühlte Parallelisierung).

Alternativwelten resultieren aus getroffenen Entscheidungen und abgelegten bzw. abgelehnten Rollen oder auch zurückliegenden Naturereignissen und geschichtlichen Wendepunkten. So könnte durch ständige Bifurkation oder Gabelung der Ereignisse in verschiedene Alternativen das sogenannte Multiversum entstehen. Diese Art Parallelisierung „was-wäre-gewesen-wenn“ funktioniert aber nicht, denn sie bedeutet eine Vervielfältigung der Materie ohne Energiebereitstellung und verletzt damit den Energieerhaltungssatz. Ein Universum kann sich nicht durch Zellteilung vermehren.

Selbst wenn die Materie statt dessen sequenziert würde, also in rascher Folge zeitlich-räumlich verschoben um Gleichzeitigkeit zu simulieren, würde das örtliche überlichtschnelle Bewegungen ermöglichen, was wir real nicht erleben. Sequenzierung oder sogar auch Parallelisierung virtueller Materie kann allerdings stattfinden, denn in der virtuellen Realität existiert so etwas wie Speicherplatz und Sicherheitskopien und für diese wird extra elektrische Energie bereitgestellt.

Alternativwelten sind also eine rein menschliche Erfindung und sind dem "Leben nach dem Tod" ähnlich. Sie sind, wie Götter und Superhelden, ein geistiges Axiom, dem in der Realwelt nichts entspricht ausser ihrem elektromagnetischen Geister-Abbild, ein Produkt irrationaler Logik. Es besteht kein physikalisches Indiz, sondern nur ein starker menschlicher Wunsch, Fehler rückgängig zu machen.

Eine Sequenzierung der Materie würde erst durch Zeitreisen ermöglicht. Dann könnte man zwischen Zeitlinien hin- und herspringen. Lasst uns hoffen, dass so etwas nie erfunden wird.

Literarische Ansätze der Überlagerung von Informationstechniken geistiger und maschineller Natur mit der physikalischen Realität findet man in Jack Finneys "Das andere Ufer der Zeit", Blake Crouchs "Gestohlene Erinnerung" und Michael Atamanovs "Die Unterwerfung der Wirklichkeit". Die wunschbasierte Veränderung der Wirklichkeit durch geistige oder informationstechnologische Steuerung wird dort am offensichtlichsten dargestellt. Altbekannte Beispiele für wunschbasierte Pseudowissenschaft sind der Stein der Weisen und das Perpetuum Mobile.

Als nächstes noch die Binsenweisheit, dass  die Zukunft einer Alternativwelt sehr ähnlich ist, denn auch sie wird geistig projeziert, wenn auch nicht nachträglich. Im Gegensatz zur Alternativwelt kann man sie aber wirklich beeinflussen, solange, bis sie Gegenwart wird.

Nun noch schnell die Variante, dass das gesamte Multiversum in allen seinen verschiedenen Konfigurationen nicht entsteht, sondern schon existiert, inklusive aller verschiedener Entscheidungswege identischer Individuen. Das ist grundsätzlich nicht unmöglich, aber extrem unwahrscheinlich. Schon auf unserem einen Planeten existieren identische Individuen nur als eineiige Zwillinge. 

Dass gar auf einem anderen Planeten in einem anderen Universum ein identisches Individuum vor der gleichen Entscheidung steht wie auf der Erde hier ist so unwahrscheinlich, dass sogar die Unendlichkeit bei der Frage rot anlaufen würde, ob sie das möglich machen kann.Tatsächlich stehen aber auf unserem Planeten recht viele ähnliche Individuen vor ähnlichen Entscheidungen. Anstatt sich in einem anderen Universum auf einer Suche nach Antworten zu begeben, kann man also vor seiner eigenen Haustür anfangen. 

Bleiben wir nun bei der biologischen Analogie von Multiversen und Zellverbänden. Wären Universen tatsächlich dicht gepackt wie Zellen in Lebewesen oder Atome in Festkörpern, könnte sich unser eigenes Universum nicht (mit tatsächlich teilweise Überlichtgeschwindigkeit durch Raumausdehnung) ausdehnen, ohne andere Universen zu komprimieren oder mit ihnen zu kollidieren. Atome im Gas hingegen können sich frei bewegen und diese Analogie wäre auch sinnvoller. Das Multiversum würde dann aus diskreten Materiewolken bestehen, die sich einen Raum teilen. Es gibt ja auch die Branwelttheorie, nachdem Universen mehrdimensional gestapelt sind, so dass sie sich aus dem Weg gehen können. Warten wir hier am besten auf die Beweise dieser amüsanten Geschichte. Höhere Dimensionen dienen meist rein mathematischen Zwecken, der reale Raum bleibt 3-dimensional. Mehrdimensional geordnete Darstellungen können in der 3D-Realität recht unordentlich aussehen. Wie auch immer, wenn unser Universum sich mit einem anderen trifft, werden wir es daran merken, dass Galaxien plötzlich in die falsche Richtung fliegen.

Der höherdimensionale Raum hat viele Autoren zu der Idee des Hyperraums bewogen, in dem es sich mit Überlichtgeschwindigkeit reisen lässt, denn Projektionen des höherdimensionalen Hyperraums ließen sich ja so zurechtdrehen (oder verzerren oder "falten"), dass der Abstand zwischen 2 Punkten im niederdimensionalen Raum kürzer wird.

Auch mit der Zeit wird gern geometrisch herumgespielt, etwa könnte die Zeit die Form einer Helix haben, wie in Matthew Reillys Roman "The secret runners of New York". Und dann, wenn die Helix verbogen wird, überlappen Vergangenheit und Zukunft miteinander. Blöd nur, dass die Zeit überhaupt keiner Geometrie gehorcht, denn sie ist durch sich bewegende Materie oder Energie definiert sowie durch die Vermehrung der Unordnung (Entropie). Und hierher passt genau der Spruch, die Zeit sei eine Illusion. Was wir als Zeit messen, ist verkodiert in den Bewegungen unzähliger Atome und Objekte. Weder kann man den gesamten Kode für eine beliebige Vergangenheit berechnen, noch für eine beliebige Zukunft. Und selbst wenn man diese ungeheuer komplexe Konfiguration berechnen könnte, wer bringt all die Objekte dann zum gewünschten Ort? Die Relativität lässt es immerhin zu, dass Objekte unterschiedlich schnell altern, wenn sie sich unterschiedlich schnell bewegen. Dadurch lässt sich der Fluss der Zeit relativ zueinander und das Altern sehr lokal auf die sich schneller bewegenden Objekte beschränkt verändern. Das wären ungefähr "Reisen in die Zukunft", aber ohne Rückfahrkarte und deshalb ohne Einfluss auf die Vergangenheit.

Eine andere bekannte Idee ist das holographische Universum. Bedeutet das nun, das unser Universum auf irgendeiner kosmischen Glasplatte gespeichert ist? Nein, keinesfalls, diese Idee spricht statt dessen wiederum über unser Universum als eine Projektion aus dem höherdimensionalen Raum, also über eine mathematische Methode, das 3D Universum einfacher zu erklären. Natürlich wäre es dem menschlichen Ego sehr zuträglich, das Universum als Information zu verstehen, die manipuliert werden kann und gleichzeitig einen Schöpfer der Information zu vermuten. Ein bisschen ähnlich verrückt ist der Gedanke von Portaltransportation oder Beamen, also das Versenden von Dingen oder Lebewesen als Information. Selbst wenn wir irgendwann in der Lage wären, andere organische Materie zu drucken als Polymere, auf atomarem Level, aufgrund der Kleinheit von Atomen würde dieser Druckprozess Jahre dauern, abgesehen von der Schwierigkeit, Flüssigkeiten dreidimensional zu drucken.

Zum Universum als eventuell manipulierbares Informationspaket (Informationstheorie) passt auch der Ansatz, daß Gott bei der Erschaffung des Universum mehrere tausend Naturkonstanten gerade so hingefummelt hat, daß ein menschenfreundliches Konstrukt dabei herauskam. Richtig ist es aber genau anders herum. Der Mensch hat die Naturkonstanten erst nach seinem Auftreten durch Beobachtung seiner Umgebung definiert. Das gilt ganz besonders für nicht direkt messbare Konstanten. Eine interessante Sammlung pseudowissenschaftlichen Unsinns dazu ist Koji Suzukis "Der Graben".

Und zu guter Letzt die Analogie zur Quantentheorie. Ja bei kleinsten Teilchen treten skurrile Phänomene auf, wie die Kommunikation zwischen weit voneinader entfernten Teilchen und die Wegeunsicherheit bei der Bewegung (mehrere Wege sind gleich wahrscheinlich). Diese Phänomene lassen sich aber nicht in der makroskopischen Welt beobachten. Die Übertragung von Quantenphänomenen auf die makroskopische Realität a la Schrödingers Katze dient nur der Veranschaulichung und hat sonst gar keine Bedeutung.

Fazit: Die Mathematik ist eine Geisteswissenschaft und keine Naturwissenschaft. Mathematische Modelle müssen also nicht unbedingt eine physikalische Bedeutung haben, selbst wenn sie die physikalische Wirklichkeit berechnen helfen. 

Ein Beispiel: physikalische oder chemische Daten lassen sich durch mathematische Funktionen korrelieren. Diese Funktionen dienen als Hilfslinien, um fehlende Datenpunkte zu überbrücken. Das bedeutet aber nicht, dass die Tendenz der Daten zwingend durch den Funktionstyp (zum Beispiel exponentielles Wachstum) beschrieben wird, denn oft kann man mehrere Funktionstypen durch eine Datenwolke legen, die die Daten annähernd gleich gut beschreiben.

Auch mehrdimensionales Rechnen ist in mehreren Wissenschaften notwendig, zum Beispiel bei chemischen Verbindungen aus mehr als 3 Stoffen oder Elementen, bei Materialeigenschaften oder ungeordneten Kristallen. Das ermöglicht eine Berechnung, eine räumliche physikalische Bedeutung hat es nicht.


 

 


 

Donnerstag, 14. Oktober 2021

Gestaltung des Geistes

Was für ein schöner Titel. Aber bauen wir jetzt auf dem Vorangegangenem auf. Wir definieren den Geist als die Gesamtmenge aller Vernünfte einer Person. Der Verstand wiederum war ja schon als Summe derjenigen Hirnfunktionen, die den Input auswerten und mit den ausgebildeten Vernünften verwerten, festgelegt. Der Verstand benutzt also den Geist und der Geist beeinflusst den Verstand. Es ist also von äußerster Wichtigkeit, dass wir den Geist richtig gestalten. Dann kann ihn der Verstand so benutzen, dass er mit seiner Umwelt vorteilhaft interagiert.

Für die Gestaltung hatten wir vier Wege ausgemacht, Addition, Subtraktion, Überlagerung und Transformation, wobei die Überlagerung durchaus Schnittmengen mit Addition und Transformation aufweist. Addition und Subtraktion können wir schnell abhaken, sie stellen Wissenszuwachs und Vergessen dar. Das gesammelte Wissen sollte miteinander harmonieren, sich ergänzen, aufeinander aufbauen, das Oberstübchen also geschmackvoll möbliert werden. Spielzeuge sollten auch nicht fehlen. Es gibt Leute, die sehr viel Spaß an ihrem Wissen haben, etwa Musiker und Künstler allgemein, Mathematiker oder Humoristen. 

Transformation, also die Verzerrung des Geistes kann man wohl durch Drogen oder Askese erreichen, aber auch durch starke negative oder positive Erlebnisse. Oft funktioniert danach der Verstand nicht mehr so richtig, weil die Werkzeuge des Geistes nicht mehr das richtige Ergebnis liefern. Wichtige Verzerrungen alltäglicher Art sind positive oder negative Glaubenssätze, wie unten noch beschrieben. Diese haben einen starken Einfluss auf den Verstand.

Am interessantesten ist tatsächlich die Überlagerung. Man kann Geister mit ihren Vernünften aufeinander abbilden, vergleichen und sogar angleichen (Vorbild). Nach dem Vergleich kann man aber eventuell auch missliebiges erkennen. Besonders interessant ist es sicher, Geister mit völlig verschiedenen Vernünften abzugleichen oder anzugleichen, wie es etwa manche Schauspieler tun.

Die Brille des Geistes, durch die der Verstand die Umwelt selektiv wahrnimmt, ist eine weitere Form der Überlagerung. Und auch sie gestaltet durch Rückkopplung den Geist.

Der erste Schritt zur Geistesgestaltung ist die Inventur des Geistes oder im Spielejargon: des Charakters. Wer hat dir welche Fähigkeiten (Vernünfte) gegeben? Die ganze Familie wird abgegrast, die Freunde, die Lehrer, die Vorgesetzten, die Bekannten und ihre Hinterlassenschaften in deinem Gehirn. 

Dann kann man das schädliche Zeug aussortieren. Am schwierigsten ist dies bei tief verankerten Kindheitserfahrungen. Dort muss man mit elterlichen Strategien arbeiten, die mit kindlichen Grundbedürfnissen konkurrierten und so kindliche Vernünfte erzeugten. Bei Kindern heißen die fundamentalen (Ordnungs-) Wahrnehmungen Glaubenssätze. Aus Ihnen entstehen die ersten Vernünfte, die zur Verstärkung, Abschwächung oder Umkehrung des Glaubenssatzes dienen sollen.

Wen das näher interessiert, der kann Stefanie Stahls „Das Kind in dir muss Heimat finden“ lesen. Glaubenssätze formen durch ihre resultierenden Vernünfte den ersten und meist unbewussten Geist eines jeden Menschen und dieser kann auch schon in einem Mindset kanonisiert sein, wenn die Glaubenssätze in eine Richtung deuten. Man kann diesen kindlichen Geist gern in mehrere Entitäten unterteilen, etwa Schattenkind und Sonnenkind.

Ist man den Kinderjahren entwachsen, kann man seinen Charakter entweder nach Vorbildern oder frei weiterentwickeln. Was kann ich gut, was  macht mir Spaß, was passt noch dazu? Was ist cool? Dabei gibt es auch einige Fähigkeiten, die man ablehnen sollte, auch wenn man Talent dafür hat, zum Beispiel kriminelle oder selbstzerstörerische Fähigkeiten wie Schlösser knacken und Trinkfestigkeit.

Ganz wichtig für die Gestaltung ist die sogenannte kognitive Dissonanz, also die Differenz zwischen Wunsch und Realität (die Randbedingungen), die Differenz zwischen eigenen Wünschen und den Wünschen anderer (ebenfalls Randbedingungen). Das eigene Ego entspricht vielleicht nicht dem was man als Realität wahrnimmt oder es entspricht nicht den Wünschen der Gesellschaft oder des Partners. Kognitive Dissonanz ist immer die Gelegenheit etwas loszulassen, etwas dazuzugewinnen oder aber auch etwas zu zerstören.

Die mächtigsten Worte bei der Gestaltung des Geistes sind übrigens nicht: "Ich denke (so), also bin ich (so)!", sondern "Ich bin (so), also handle ich (so)!". Ausgehend von einem Wunsch muss man entsprechend tätig werden, um den Wunsch zu erreichen. Wunschdenken ist nicht magnetisch, sondern ein fundamentaler Ausgangs- und Ausrichtungspunkt der Selbstdefinition und des folgerichtigen Handelns. Dabei muss man meistens den Weg von Anfang her gehen und kann nur selten irgendwo in die Mitte reinspringen.

Will man zum Beispiel mit dem Rauchen aufhören, lautet der Satz "Ich bin Nichtraucher, also rauche ich nicht."

Bei der Behandlung von Depressionen ist ja ein zentraler Satz, "Meine Gedanken sind nicht ich". Dem möchte ich widersprechen. Sie sind Ich, aber mittels kognitiver Dissonanz kann man sie als fremd erklären und damit verabschieden. Ebenfalls widersprechen möchte ich der Meinung, dass man negative Zwangsgedanken nicht unterdrücken soll. Das kann aber ein sehr probates Mittel (emotional thought stopping), mit dem diese Gedanken nicht etwa priorisiert, sondern ganz im Gegenteil herabgewertet werden, bis sie manchmal verschwinden. Vielleicht ist es wichtig, dabei zu unterscheiden zwischen Problemen, die gelöst werden müssen und solchen, die gar keine Lösung (mehr) haben.

Eine literarische Verarbeitung des Themas findet man bei Dan Sugralinovs "Next Level"- Trilogie.

Mittwoch, 13. Oktober 2021

Quasikristalle 2

Das Nachfolgende ist das Manuskript eines Artikels, der später leider nur in stark verkürzter Form gedruckt wurde:

Bis zur Entdeckung von Shechtmanit, einem ikosaedrischen Quasikristall im Jahr 1982 durch Daniel Shechtman ist feste Materie in kristalline und glasartige Stoffe unterteilt worden. Quasikristalle sind ein neuer Ordnungszustand kondensierter Materie mit aperiodischen, langreichweitig geordneten Strukturen. Ihre Beugungsmuster zeigen scharfe Bragg-Reflexe und nicht-kristallographische Symmetrien. Neben der ikosaedrischen Symmetrie wurden oktagonale, dekagonale und dodekagonale Symmetrien beobachtet. Quasikristalle sind im Wesentlichen Verbindungen, die  zur  Klasse der komplexen intermetallischen Verbindungen gehören. Die Entdeckung von Dan Shechtman führte  zu  einem  Paradigmenwechsel in der Festkörperforschung.  Dafür wurde er 2011 mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Was ist ein Quasikristall? Im April1982 machte Dan Shechtman vom Technion Institut in Israel während eines Forschungsaufenthalts am U.S. National Bureau of Standards  -  jetzt das National Institute of Standards and Technology, Gaithersburg, MD, USA - eine Beobachtung, die ein Axiom in Frage stellte, das Generationen Studierender gelernt hatten: Ikosaedrische Symmetrie ist unvereinbar mit der translationsperiodischen Struktur von Kristallen. Die Frage ,,Was ist kristalline Materie?" musste daraufhin neu gestellt werden und führte zu einem Paradigmenwechsel  in  der Festkörperforschung. Dafür wurde Shechtman mit den Nobelpreis für Chernie geehrt  [1]. Was war geschehen? Das  Elektronenbeugungsmuster einer chemischen Verbindung nahe der Zusammensetzung Al6Mn zeigte ein Punktmuster mit scharfen Spots und der Symmetrie des Ikosaeders [2]. Ein Elektronenbeugungsmuster entsteht, wenn ein Elektronenstrahl geeigneter Wellenlänge Materie durchstrahlt. Durch Wechselwirkung mit der Materie werden die Elektronen gestreut und es bildet sich durch Interferenz ein Beugungsmuster aus Spots auf einem Detektor.

Das Ikosaeder ist ein Platonischer Körper aus zwanzig gleichseitigen Dreiecken, mit dreißig Kanten und zwölf Ecken und 2-,  3-  und  5-zähligen Drehachsen. Drehungen um diese Drehachsen mit jeweils 360°/n  =  180°, 120°, und 72° sowie ganzzahligen Vielfachen davon sind Symmetrieoperationen des Ikosaeders, d.h. er wird wieder auf sich selbst abgebildet. Insgesamt besitzt das Ikosaeder fünfzehn 2-, zehn 3- und sechs 5-zählige Drehachsen, ein Inversionszentrum und zahlreiche Spiegelebenen. Die Lage dieser Symmetrieelemente relativ zueinander lässt sich mit Hilfe einer stereographischen Projektion darstellen. Ein Vergleich lässt erkennen, dass die Drehachsen der Beugungsmuster von Al6Mn  angeordnet sind wie die Drehachsen  im  Ikosaeder.  Al6Mn ist also eine ikosaedrische Verbindung. Wegen der  Symmetrie des Streuprozesses beobacht man  im  Beugungsmuster nicht 5-zählige sondern 10-zählige Symmetrie.

Die gesamte Streuintensität ist in scharfen Bragg-Reflexen, so heissen die Spots, konzentriert. Beobachtet man Bragg-Reflexe im Beugungsexperiment, dann muss das Material langreichweitig geordnet sein. Kristallstrukturen lassen sich als eine periodische Anordnung von Elementarzellen beschreiben. Sie sind daher langreichweitig geordnet und  ihre  Beugungsmuster, zeigen stets Bragg-Reflexe. Ein Muster aus Azulejo-Kacheln ist ein Beispiel einer zweidimensionalen, periodischen Anordnung, wenn  man  sich das Muster unendlich fortgesetzt denkt. Es ist translationsymrnetrisch bzw. translationsperiodisch, d.h. es gibt unendlich viele Symmetrieoperationen in Form von Bewegungen in der Ebene mit denen die Parkettierung aus Azulejo-Kacheln durch Verschiebung ohne Drehungen auf sich selbst abgebildet wird. Jede Kachel ist eine dekorierte Elernentarzelle. Diese sind translationsperiodisch angeordnet und bedecken die Ebene lückenlos und ohne Überlappung. Neben der Translationssymmetrie gibt es hier unendlich viele 2- und 4-zählige Drehachsen.

 Die klassische Kristallographie lehrt, dass nur n  =  1-, 2-, 3-, 4- oder 6-zählige Drehachsen als Symmetrieelemente eines Kristalls erlaubt sind. Somit können nur Drehungen  um  360°/n  =  0°, 180°, 120°, 90° und 60° sowie ganzzahlige Vielfache davon Symmetrieoperationen sein. Fünfzählige Drehachsen und Drehachsen mit n größer als 6 sind verboten, d. h. sie sind nicht-kristallographisch.  Im  zweidimensionalen Fall lässt sich dies einfach am  Beispiel von Parkettierungen des Fußbodens veranschaulichen. Mathematisch gesehen ist eine Parkettierung eine lückenlose Bedeckung der Ebene mit Kacheln ohne Überlappung. Parkettierungen aus nur einer Kachelsorte sind  nun  Beispiel mit Rechtecken (n  =  2), Dreiecken (n  =  3), Quadraten (n  =  4) oder Sechsecken  (n  =  6)  möglich. Fünfecke (n  =  5) können die Ebene nicht parkettieren, da stets Lücken zwischen den Fünfecken bleiben. Ein Beispiel ist die Abwicklung der Flächen eines Pentagon-Dodekaeders. Die Symmetrie des Ikosaeders ist auf Grund seiner 5-zähligen Drehachsen nicht-kristallographisch, d.h. der dreidimensionale Raum lässt sich mit Ikosaedern nicht parkettieren.

Bis zur Entdeckung von Shechtman wurde feste Materie in Kristalle und Gläser unterteilt. Die Kristalle sind nah- und ferngeordnet, während die Gläser nur Nahordnung aufweisen. Das neue Material konnte auf Grund seiner  nicht-kristallographischen  Symmetrie kein Kristall sein, aber wegen der beobachteten Fernordnung auch kein Glas. War es ein bisher unbekannter Zustand kondensierter Materie? Erst zwei Jahre später, im Oktober 1984,  gelang es Dan Shechtman mit Unterstützung von  Ian Blech, John  Cahn  und Denis Gratias seine Beobachtung in der Zeitschrift Physical Review Letters mit dem Titel ,,Metallic Phase with Long-Range Orientational Order and No Translational Symmetry" [2] zu veröffentlichen. Zuvor waren Manuskripte im Journal of Applied Physics abgelehnt bzw. in der Zeitschrift Metallurgical Transactions verzogert worden. Dies zeigt den starken Widerstand eines Teils der Wissenschaftler, die nicht akzeptieren wollten, dass die Natur gegen ein ,,Naturgesetz" verstößt. Ein namhafter Vertreter dieser Gruppe war der Doppel-Nobelpreitrager Linus Pauling. Auf Grund seiner jahrzehntelangen Erfahrungen als Strukturcherniker und als Experte  für  komplexe intermetallische Verbindungen hatte sein Wort unter Wissenschaftlern besonderes Gewicht. Komplexe intermetallische Verbindungen sind Verbindungen mit komplexen Kristallstrukturen, d. h. mit  hunderten oder tausenden Atomen pro Elementarzelle. Shechtmanit  -  so wurde die neue Verbindung aus  Al und  Mn genannt - gehört nach dem heutigen Stand der Forschung auch zu  dieser Familie. Ihre Elementarzelle erwies sich als unendlich groß! Pauling [3] erklärte die beobachtete ikosaedrische  Symmetrie des Beugungsmusters als Ergebnis einer Vielfachverzwilligung kubischer Kristalle. Dazu musste er eine kubische Kristallstruktur aus Al und Mn mehr als tausend Atomen pro Elementarzellwürfel postulieren. Fünffachzwillinge kennt man von einfachen Kristallstrukturen mit wenigen Atomen pro Elementarzelle,  zum  Beispiel von Gold oder Silber. Sie bilden sich als zyklische Kontaktzwillinge aus Tetraeder-Subeinheiten. Da Shechtmanit eine metastabile Verbindung ist, die  nur  erhalten werden kann, indem Al-Mn Schmelzen extrem schnell abgekühlt werden, ist die Probenqualität meist schlecht, d. h. kleine Bereiche der Substanz können  in Homogenität und Ordnungsgrad schwanken. Auch sind nur kleine Korngrößen von wenigen Mikrometern Durchmesser zu erhalten. Die Charakterisierung des Materials war damit schwierig und  im Wesentlichen auf elektronenoptische Methoden und die Pulverdiffraktometrie beschränkt.

Die Beobachtung von Shechtman am Shechtmanit konnte jedoch nach 1984 von vielen Wissenschaftlern aus aller Welt reproduziert werden. Seitdem sind viele weitere Verbindungen  in Systernen [4] wie AI-Cu-Li, Al-Mn-Si, Al-Co-Ni, Al-Mn-Pd, Al-Cu-Fe, Cd-Yb, Ho-Mg-Zn, Ag-In-Yb  mit Beugungsmustern  nicht-kristallographischer  Symmetrie entdeckt worden. Neben ikosaedrischer kennt man heute Verbindungen mit oktagonaler, dekagonaler oder dodekagonaler Symmetrie,  d. h. 8-, 10- oder 12-zähligen Drehachsen. Mehr als hundert thermodynamisch stabile Quasikristalle sind bisher bekannt. Sie können einphasig und in Form großer Individuen mit nahezu perfekter langreichweitiger Ordnung herstellt werden. Eine stabile ikosaedrische Verbindung ist zum Beispiel Ho8,7Mg34,6Zn56,8 [5]. Eine Vielzahl moderner Methoden der Strukturanalyse belegt das Phänomen nicht-kristallographischer Symmetrie hoch geordneter Verbindungen. Pauling irrte sich!

Die bekannten Quasikristalle zeigen Eigenschafien, wie man sie von komplexen intermetallischen Verbindungen erwartet. An einigen Quasikristallen hat man geringe elektrische und thermische Leitfähigkeiten gemessen sowie niedrige Oberflächenenergien - ungewöhnlich für  einen Stoff aus metallischen Komponenten. Bisher gibt es aber nur Nischenanwendungen wie Bratpfannenbeschichtungen und Anwendung in medizinischen Stählen. Bis 2009 waren alle Quasikristalle synthetische Materialien aus dem Labor. Nach einer jahrelangen systematischen Suche  [6] gelang es Bindi, Steinhardt, Yao und Lu einen ikosaedrischen Quasikristall der Zusammensetzung Al63Cu24Fe13 in einem Mineralagglomerat aus der Chukhotka-Region in Sibirien zu finden. Obwohl Al-basierende Intermetalle  zur  Bildung eine reduzierende Atmosphäre benötigen, stützen die in Vergesellschaftung aufgefunden Minerale den natürlichen Ursprung der Probe. ,,Ikosaedrit" Al63Cu24Fe13 wäre damit das erste quasikristalline Mineral. Bereits wenige Monate nach der Veröffentlichung von Shechtman wurde von Steinhardt und Levine [7] ein Konzept zur Erklärung  nicht-kristallographischer  Syrnmetrien langreichweitig geordneter Materialien veröffentlicht. Als Bezeichnung  für  die neue Stoffklasse schlugen sie ,,Quasikristalle" vor. Wie war es  möglich in so kurzer Zeit nach  der  Entdeckung eine  Theorie der Quasikristalle zu entwickeln? Warum verstoßen Quasikristalle nicht gegen kristallographische ,,Naturgesetze"?

Die Kristallographie in ihrer modernen Form ist die experimentelle Wissenschaft der Bestimmung der Anordnung der Atome in Festkörpern und allen damit verwandten Aspekten.  In ihren  Anfängen  ist sie entstanden als beschreibende Wissenschaft der Morphologie von Mineralen. Die Gesetzmäßigkeiten wurden zuerst im  Gesetz der Winkelkonstanz (Nicolaus Steno, 1669 am Beispiel des Bergkristalls und Jean Baptiste Rome de l'Isle in allgemeiner Form) ausgedrückt. Auf Grund  der Vermutung von Abbe Rene-Just Haüy um 1784, dass das wesentliche Merkmal der Kristalle ihre Translationsperiodizitäit ist und somit eine langreichweitige Ordnung induziert, konnte Auguste Bravais 1849 zeigen, dass jedem Kristall ein Punktgitter zugeordnet werden  kann und dass diese mit Hilfe der 14 Bravais-Gittertypen klassifiziert werden können. Die mathematische Untersuchung möglicher Symmetrien translationsperiodischer Strukturen wurde unabhängig voneinander durch Schoenflies und Fedorov durchgeführt. Alle Kristalle lassen sich einer von 230 Raumgruppentypen zuordnen. Entsprechend wurde die Kristallographie für den 1-, 2- und 4-dimensionalen Raum entwickelt. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sich die Kristallographie von einer Morphologielehre zu einer Symmetrielehre entwickelt.  In  den International Tables of Crystallography A findet man die Definition eines ,,klassischen" Kristalls: Ein Objekt im n-dimensionalen Punktraum. Es heißt ein n-dimensionales Muster oder kurz Kristall, wenn es unter den Symmetrieoperationen 1) n Translationen gibt, deren Translationsvektoren tl, ....  ,tn  linear unabhängig sind und 2) alle Translationsvektoren außer dem Nullvektor 0d größer als 0 lang sind.

Der Beweis der Hypothese von Haüy, daß Kristalle ferngeordnet sind, wurde 1912  mit Hilfe eines Röntgenbeugungsexperimentes am ZnS durch Friedrich, Knipping und von Laue erstmals geführt. Kurze Zeit spater gelangen Vater und Sohn Bragg erste Strukturaufklärungen und somit auch der Beweis der Translationsperiodizität der untersuchten Substanzen. Seitdem wurden zahllose Kristallstrukturen experimentell bestimmt. Auf Grund dieser Erfolgsgeschichte wurde die Eigenschaft ,,langreichweitige Ordnung" und Translationsperiodizität  synonym verwendet. Dies ist im strengen Sinne nicht erlaubt. Translationsperiodizität erzeugt langreichweitige Ordnung, aber nicht jedes langreichweitig geordnete Muster ist translationsperiodisch. Glücklicherweise gibt es eine Messvorschrift, um Ordnung zu messen. Dies ist die schon erwähnte Beugung. Neben Elektronen können dann auch Photonen oder Neutronen geeigneter Wellenlänge genutzt werden. Durch eine Fouriertransformation (eine mathematische Transformation und damit ein Mausklick am Computer) überführt man die Messergebnisse der Beugung, die im sogenannten reziproken Raum beschrieben werden, in den physikalischen Raum. Man erhält aus der Intensitätsverteilung des Beugungsmusters eine Funktion (Pattersonfunktion), die die Korrelation zwischen den Atomen im Material beschreibt. Hohe Korrelation zwischen weit entfernten Atomen führt zu punktförmigen Beugungsmustern. Unordnung zerstört die Korrelation und damit die Fähigkeit, die Lage von weit entfernten Atomen aus der Information von nahe liegenden Atomen  zu  berechnen.

Neben der Periodizität gibt es andere Möglichkeiten, langreichweitig geordnete Strukturen zu erzeugen. Dazu gehören auch sogenannte quasiperiodische Anordnungen. In mathematischer Form ist dies seit 1947 durch die Arbeiten über fastperiodische und quasiperiodische Funktionen von Harald Bohr [8], dem Sohn von Niels Bohr, bekannt. Damit wird verständlich, warum Levine und Steinhardt so schnell eine Theorie entwickeln konnten und als Name ,,Quasikristall" vorgeschlagen haben. Sie standen auf den Schultern der Mathematiker! Der Begriff Quasikristall ist eine Abkürzung  für quasiperiodische Kristalle. Daraufhin wurde Anfang der 90-iger Jahre vorgeschlagen, die Definition eines Kristalls [9] zu ändern: Ein Festkörper ist nun ein Kristall,wenn er ein ,,im  Wesentlichen diskretes" Beugungsmuster aufweist. Nach dieser Definition sind Quasikristalle Kristalle! Die klassischen Kristalle sind die periodischen Kristalle. Ihre Beugungsmuster sind (wahrhaft) diskret. Leider ist laut der mathematischen Definition von Bohr die Periodizitat ein Spezialfall der Quasiperiodizität. Periodische Kristalle sind demnach auch quasiperiodisch. Man nennt daher alle Kristalle, die nicht-periodisch sind aperiodisch, um sie von den periodischen zu unterscheiden. Quasikristalle nennt man die aperiodischen Kristalle mit nicht-kristallographischer  Punktgruppensymmetrie. Aperiodische Kristalle mit kristallographischer Punktgruppensymmetrie sind schon vor den Quasikristallen entdeckt worden. Es sind die inkommensurabel modulierten Strukturen und sogenannte Komposit-Strukturen [l0], die aus Teilsstrukturen bestehen, welche zueinander inkommensurabel sind. Die Abweichungen von der Periodizität lassen hier als systematische Störung eines periodischen Kristalls beschreiben. Diese Störung zeigt sich  im  Beugungsmuster  in  Form von Satellitenreflexen  um  die Bragg-Reflexe einer periodischen Basisstruktur. Der Zusatz ,,wesentlich" in  der neuen Definition musste aufgenommen werden, da sich im Beugungsmuster der Quasikristalle mit steigender Intensität des Primärstrahls immer neue Reflexe zeigen. Diese neuen Reflexe liegen zwischen den ursprünglichen Reflexen. Im mathematischen Limit ist das Beugungsmuster dann "dicht" belegt. Im  Experiment bleibt das Beugungsmuster der Quasikristalle aber (im Wesentlichen) immer diskret, da die Primärstrahlintensität nicht unendlich gesteigert werden kann. Diese Definition eines Kristalls über eine Messvorschrift ist kritisiert worden. Man empfindet sie als mathematisch nicht sauber und einige stören sich auch daran, dass ein Kristall nun über den reziproken Raum und nicht mehr im Realraum definiert ist. Im wissenschaftlichen Alltag meint man periodische Kristalle, wenn man von den Kristallen spricht.

Levine und Steinhardt  [7]  entdeckten, dass sogenannte Penrose-Parkettierungen zur Beschreibung der Struktur von Quasikristallen dienen können. Penrose-Parkettierungen sind nach ihrem  Entdecker Sir Roger Penrose [11] benannt. Er konstruierte 1973 die Rautenparkettierung P3, sowie zwei weitere mögliche Parkettierungen (P1, P2).

Seine Fragestellung war, Parkettierungen der Ebene mit möglichst wenig Kachelsorten zu finden, die beim Aneinanderfügen nur nicht-periodische Muster erlauben. Ein solcher Satz Kachelsorten heißt dann aperiodisch. Das ist eine knifflige Aufgabe. Der erste aperiodische Satz Kacheln hatte mehr als 20000 Kachelsorten! Später gelang es, einen aperiodischen Satz mit 6 Kachelsorten zu finden. Schließlich konnte Penrose mit P2 und P3 die Zahl auf 2 reduzieren. Die Penrose-Parkettierung P3 ist nicht-periodisch und aus zwei unterschiedlichen Kachelsorten aufgebaut. Die blaue Raute besitzt Winkel von  72° und 108° und die gelbe Raute Winkel von 36° und 144°. Aus den beiden Rauten lassen sich in einfacher Art und Weise periodische Muster konstruieren. Sie werden erst aperiodisch, wenn sie mit Markierungen, sogenannten ,,Matching-Rules", versehen werden. Jede Parkettierung aus diesen markierten Rauten (Pfeile und Doppelpfeile) ist nicht-periodisch. Sie erlauben 8 unterschiedliche Eckkonfigurationen.

Die Markierungen werden auf den nicht-periodischen Parkettierungen meist nicht gezeigt. Man kann sich die Penrose-Parkettierung auch als ein ,,Quasigitter vorstellen, das im Quasikristall mit Atomen dekoriert ist. Eine Dekoration der beiden ,,Elementarzellen" mit Atomen kann zu Matching-Rules führen, die die Bildung einer periodischen Struktur verhindern. Aus den mit Matching-Rules versehenen Rauten lassen sich aber unendlich viele unterschiedliche nicht-periodische Rautenparkettierungen erzeugen, d. h. sie lassen sich nicht durch Verschiebungen oder Drehungen ineinander überführen. Sie sind trotzdem in einem gewissen ,,endlichen" Sinn alle äquivalent zueinander. Jeder Ausschnitt unabhängig von seiner Grösse,  z. B. ein Stern aus fünf blauen Rauten, lässt sich in jeder äquivalenten Parkettierung und auch in der Parkettierung selbst unendlich oft wiederfinden. Alle unterschiedlichen Penrose-Parkettierungen P3 sind zueinander lokal ähnlich. Sie werden deshalb zu einer ,,Lokalen Isomorphismusklasse" zusammengefasst. Jede Parkettierung der Klasse besitzt das gleiche Beugungsmuster. Auch periodische Muster besitzen die Eigenschaft der lokalen Ähnlichkeit. Alan Mackay [12] hat vor der Entdeckung der Quasikristalle die Beugungseigenschaften der Penrose-Parkettierung untersucht. Die Rautenparkettierung P3 erzeugt ein punktförmiges Beugungsmuster 10-zähiger Symmetrie. Sie ist daher im Sinne der Definition eines Kristalls quasiperiodisch, aperiodisch und quasikristallin. Die dekagonale Symmetrie des Beugungsmusters resultiert daraus, dass die Kanten der Rautenparkettierung P3 alle parallel zu Vektoren sind, die in die Ecken eines Dekagons zeigen. Mit Hilfe eines optischen Experiments lässt sich die ,,Quasikristallinität" leicht zeigen. Man kopiert dazu eine Penrose-Parkettierung auf eine Transparentfolie und durchstrahlt diese mit dem Licht eines Lasers. Die Kantenlänge der Rauten muss so lange verkleinert werden, bis an der Wand in mehreren Metern Entfernung das Beugungsmuster sichtbar wird [12]. Das Beugungsmuster entlang 2-, 3- und 5-zähliger Drehachsen wurde von Levine und Steinhard [7] für  das Analogon einer dreidimensionalen Penrose Parkettierung berechnet. Es zeigt sich eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen Model und Experiment, obwohl im Model nur die Punkte des dieses Quasigitters mit Atomen dekoriert wurden und damit eine viel zu geringe Dichte aufweist. Die Ähnlichkeit von berechneten und beobachteten Beugungsmustern deutet darauf hin, dass die Struktur von Shechtmanit in Näherung beschrieben werden kann als Dekoration eines Teils der Quasigitterpunkte mit großen, nahezu kugeligen Baueinheiten ikosaedrischer Symmetrie [13]. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte Mackay-Cluster gezeigt. Man findet ihn in den Kristallstrukturen von intermetallischen Verbindungen, die mit ikosaedrischen Al6Mn chemisch verwandt sind. Die Zwiebelschalen-Struktur des ikosaedrischen Mackay-Cluster aus besteht aus 55 Atomen. Ein Manganatom ist von 12 Al-Atomen auf den Eckpunkten eines Ikosaeders, 30 Al-Atomen auf den Eckpunkten eines Ikosidodekaeders und 12 Mn-Atomen auf den Eckpunkten eines großen Ikosaeders umgeben.

Peter Lu und Paul Steinhardt [14] entdeckten 2007 am Darb-i Imam Schrein in Isfahan, Iran, ein 5-zähliges komplexes Kachelornament aus sogenannten Girih-Kacheln. Dieses in seiner Komplexität beeindruckende Beispiel islamischer dekorativer Kunst stammt aus dem Jahr 1453. Eine Analyse des Musters zeigt, dass es nahezu perfekt nicht-periodisch ist. Dazu projizierten Lu und Steinhardt das Kachelmuster des Schreins auf das dekagonale Muster der Penrose- Parkettierung P2 (Drachen und Pfeile).

Von 3700 Kacheln erwiesen sich nur 11 Kacheln als ,,defekt", d. h. sie liegen nicht nach den Regeln der aperiodischen Anordnung. Da es unmöglich erscheint, solche komplexen Muster mit dieser Präzision allein mit Zirkel und Lineal und Matching-Rules zu konstruieren, muss man davon ausgehen, dass die islamischen Künstler in der Lage waren, eine Mathematik zu verwenden, die erst 500 Jahre später ausgearbeitet wurde. Dazu werden Kacheln in kleinere Kacheln zerlegt, die selbstähnlich zu den Ausgangskacheln sind. Man erhält dann einen Ausschnitt der Parkettierung mit kleineren Kacheln. Im folgenden Schritt werden diese durch Skalierung mit einem gemeinsamen Faktor wieder auf die ursprüngliche Größe gebracht. Der Prozess wird iterativ fortgesetzt, bis eine beliebig große Fläche parkettiert ist. Ein solcher Prozess erzeugt Selbstähnlichkeit und lässt sich mit einer Substitutionsregel beschreiben. Dies soll an einem Beispiel erläutert werden, das etwas einfacher ist als die Penrose-Parkettierung. Legt man auf den Overheadprojektor zwei Penrose-Parkettierungen auf Transparentfolien übereinander und verschiebt diese ein wenig zueinander, dann zeigt sich ein Moire-Muster aus parallelen Linien [7]. Diese können als Netzebenenschar gedeutet werden. Die Abstände zwischen den Netzebenen sind nicht wie im periodischen Kristall äquidistant, sondern entsprechen der Abfolge der sogenannten aperiodischen Fibonacci-Reihe. Der Abstand zwischen zwei Linien ist entweder kurz (S) oder lang (L). Das Streckenverhältnis L/S ist die irrationale Zahl tau =  (1+(5^0,5))/2 = 1,618. Das ist der Goldene Schnitt, den man als Verhältnis von Diagonale zur Kante im regulären Fünfeck findet. Die Fibonacci-Reihe taucht in der Natur überall auf. Beispielsweise findet man sie in der Anordnung von Blättern und Samenkernen. Die Fibonacci-Reihe wurde erstmals durch Leonardo von Pisa, genannt Fibonacci, eingeführt. Dazu analysierte er die Kaninchenpopulation von Paaren von Babys (S) und Erwachsenen (L). Die Population wächst sehr schnell, da es nur einen Monat für jedes Baby-Paar dauert, erwachsen zu werden (S  zu  L) und  für  jedes Erwachsenenpaar, ein neues Babypaar zu werfen  (L zu L + S). Dies lässt sich insgesamt als Substitutionsregel ausdrücken: S zu L und L zu LS. Wenn S und L durch eine kurze (S) bzw. lange Strecke (L) dargestellt werden, beträgt das Streckenverhältnis L/S = tau, wie in der Penrose-Parkettierung. Bei einer Iteration der Fibonacci-Sequenz wird iterativ in immer kleiner werdende Segmente entsprechend der Substitutionsregel zerlegt und dann die Liniensegmente auf die ursprüngliche Länge zurückskaliert. Nach unendlich vielen Iterationsschritten erhält man ein eindimensionales, aperiodisches Quasigitter mit zwei Elementarzellen. Ein eindimensionaler Fibonacci-Quasikristall mit Manganatomen auf den Quasigitterpunktenzeigt ein diskretes Beugungsmuster.

Alle Bragg-Reflexe des eindimensionalen Quasikristalls können mit Hilfe von ganzen Zahlen indiziert werden. Die Anzahl der Bragg-Indizes, die notwendig sind um ein Beugungsmuster zu indizieren, hat den Rang R. Im Fall der Quasikristalle ist der Rang R stets größer als die Dimensionalität D des Raumes, während für periodische Strukturen R = D gilt. Die Substitutionsmethode eignet sich zur Erzeugung von aperiodischen Parkettierungen, nicht aber für eine systematische Strukturanalyse von Quasikristallen. Darum wurden nach der Entdeckung von Shechtman die konventionellen Methoden der Strukturanalyse höherdimensional erweitert. Es handelt sich hier nicht um Chemie oder Physik im höherdimensionalen Raum, sondern lediglich  um eine bequeme Art und Weise, aperiodische Strukturen mathematisch zu beschreiben. Darum wird der Quasikristall in eine höherdimensionale periodische Struktur eingebettet, deren Dimensionalität dem Rang des Quasikristalls entspricht.

Man denke sich den 1D-Fibonacci-Quasikristall in eine zweidimensionale periodische Struktur eingebettet, die sich über ein quadratisches Gitter beschreiben lässt, welches mit Liniensegmenten dekoriert ist. Diese heißen Besetzungsbereiche und sind senkrecht zum Fibonacci-Quasikristall ausgerichtet. Der physikalische Raum mit dem Fibonacci-Quasikristall schneidet die periodische Struktur mit einer irrationalen Steigung, die dem goldenen Schnitt entspricht. Die Schnittpunkte der  Liniensegmente mit dem physikalischen Raum erzeugen die Quasigitterpunkte. Ordnet man jedem Liniensegment eine Atomsorte zu, entsteht der Quasikristall. Die periodische Beschreibung im höherdimensionalen Raum ermöglicht die Strukturlösung und -verfeinerung der Atompositionen in ähnlicher Art und Weise, wie dies für periodische Kristalle geschieht. Wesentliche Aufgaben der Strukturanalyse sind: 1) Bestimmung der periodischen Elementarzelle und der  Symmetrie  im  höherdimensionalen Raurn, 2) Bestimmung des Ortes und der geometrischen Gestalt der Besetzungsbereiche und 3) Zuordnung der Atomsorten in den Besetzungsbereichen. Für einen ikosaedrischen Quasikristall ist die Elementarzelle ein 6D-Hyperkubus und die Besetzungsbereiche sind 3D-Polyeder. Für eine 3D-Penrose Parkettierung, ein einfaches Modell für einen ikosaedrischen Quasikristall, ist der Besetzungsbereich ein Rhombendreissigflächner. Beispiele für höherdimensionale Beschreibungen von polygonalen und ikosaedrischen Quasikristallen sind in [4] zu finden. Lange arbeiteten Werkstoffwissenschaftler, Physiker und Chemiker voneinander isoliert im Bereich metallischer Materialien. Die Komplexität dieser Verbindungen erforderte es, das Wesen der Quasikristalle gemeinsam zu  erforschen. Dan Shechtmans Entdeckung hat so das Fundament gelegt, in den kommenden Jahrzehnten die Klasse der metallischen Materialien besser zu verstehen.

[1] ,,The Nobel Prize in Chemistry":
http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/chemistry/laureates/2011/
[2] D. Shechtman, LBlech, D. Gratias, J. Cahn, Physical Review Letters 53 (1984) 195 1.
[3] L. Pauling, Nature 317(1985) 512.
[4] W. Steurer, S. Deloudi, "Crystallography  of  Quasicrystals", Springer, Berlin 2009.
[5] AMES lab.,  US  Department of Energy, http://cmp.physics.iastate.edu/canfield/photos.html
[6] L.  Bindi, P. J. Steinhardt,  N. Yao, P. J. Lu, American Mineralogist 96 (2011) 928.
[7] D. Levine, P.  J. Steinhardt, Physical Review Letters 53 (1984) 2477.
[8] H. Bohr, "Fastperiodische Funktionen", Springer, Berlin 1932.
[9] IUCR, Acta Crystallographica A48 (1992) 922.
[10] P. M. de Wolf, Acta Crytallographica A30 (1974) 777.
[11] R.  Penrose, Bulletin of The Institute of Mathematics and its Applications  10 (1974) 266.
[12] A. L. Mackay, Physica, 114A (1982) 609.
[13] P. J.  Steinhardt,  D.  P.  DiVincenzo, "Quasicrystals: The State of the Art, World Scientific, Singapore 1991.
[14] P. J. Lu, P. J. Steinhardt, Science 315 (2007) 1106; Supporting Online  Material.

Donnerstag, 19. August 2021

Eine Geschichte über Geschichten

Es war einmal eine Geschichte die lebte ganz allein. Da begann sie sich selbst Geschichten zu erzählen und die waren ihre Kinder und ihre Heimstatt und sie schützten sie, weil sie an sie glaubte. Doch eines Tages bemerkte die Geschichte, dass ihre Kinder sich alle sehr ähnlich waren und ihre Heimstatt war ein hoher, enger Turm, aus dem ein Entkommen unmöglich schien. Und auch den Kindern dürstete nach einem Entkommen und Gesellschaft. Da erschien ihr in bitterster Not eine Geisterfee, die ihr folgenden Zauberspruch gab:

"Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern."

Kaum gesprochen, erschien eine Strickleiter am engen Fensterchen des hohen Turmes und die Geschichte und ihre Kinder konnten hinabsteigen. Nun dauerte es nicht lange, bis sie an einen Ort kamen, wo andere Geschichten sich trafen um sich gegenseitig Geschichten zu erzählen. Das war der bislang einsamen Geschichte neu und sie schickte ihre Kinder zu den anderen zum spielen. Nun war es  aber so, dass die Geschichtenkinder ob ihrer Isolation sehr schwächlich waren und dünn. 

Da geschah es, dass die anderen Geschichtenkinder kamen und sie veränderten, so dass sie farbenfroher und robuster wurden und auch die Kinder zusammen neue Kinder erfanden. Auch die Eltern mischten sich ein und demontierten einige der schwächlichsten Geschichten in Teile. Da wurde die bislang einsame Geschichte traurig, da sie nur dies angeblich Schlechte sah und nicht die Vorteile und begann ihre Kinder zu beschützen, indem sie Gitter darum baute die hießen „Meine Kinder sind eben anders, sie können nicht mit den anderen spielen und dürfen nicht demontiert werden."
Das begann die anderen Geschichten aufzuregen, denn nun mussten sie immer um die Käfige herumlaufen und das war beschwerlich und da rissen sie die Käfige ab und bauten daraus eine Geschichte, die nur die einsame Geschichte wieder ganz allein einschloss, während ihre Kinder draußen blieben. 

Da die Gefängnisgeschichte sehr überzeugend war, glaubten sie alle einschließlich der Eingeschlossenen. Und nun verstand erst die eingesperrte Geschichte den Zauberspruch und sie sah, dass Geschichten sogar Macht über ihre Erfinder haben und sie zerstören können. Des weiteren leuchtete ihr ein, dass es möglicherweise auch eine Geschichte war, die über sie alle erzählt wurde und in der sie alle lebten. Und war es dann nicht möglich dass, auch diese große Geschichte irgendwann einmal demontiert wurde und all die Abgrenzungen hatten keinen Sinn? Nun war es nicht ausgeblieben, dass einige mitleidige Geschichteneltern sie in ihrem Gefängnis besuchten (sie wurden von den anderen auch als Verräter beschimpft), um mit ihr zu diskutieren und denen erzählte sie eines Tages von ihrer Erkenntnis.

Das kam nach draußen und da wurde das Gefängnis abgebaut und Zäune wurden allgemein verboten. Und sie erkannten auch ihre Gram über die demontierten Kinder und führten sie zum Ort der Zerbaunis.
Da sah sie, dass die Einzelteile nicht tot waren, sondern ein eigenes, kleines Leben weiterführten. Und von Zeit zu Zeit kam auch Eltern oder Kinder vorbei und borgten sich was für etwas Größeres. Es war ein Ort des Lebens, nicht des Todes. Und danach begann die einsame Geschichte erst, die anderen Geschichten zu lesen und mit ihnen neue Geschichtenkinder zu erfinden. Doch auch Geschichten sind
vergesslich, denn sie sind dem Diktat der umgeblätterten Seite unterworfen. Und wenn keiner zurückblättert, wird wohl dieselbe Geschichte, von der die einsame Geschichte nur vermutet hatte, dass es sie gibt, noch einmal erzählt werden.

Mittwoch, 4. August 2021

Vom Vorteil, verrückt zu werden

Es gibt keine Gebrauchsanweisung für diesen Text. Betrachtet
man das Leben nüchtern und normal, gibt es eigentlich, nachdem man
in die vertragsverpflichtete Generation über 30 eingetreten ist, keinen
vernünftigen Grund mehr, ein Ego zu besitzen. Behält man es, wird es
doch zerrieben zwischen Partner, Kind und Job. Vielleicht auf dem Abort
kann man es ab und zu benutzen. Oder man lässt es ganz, ganz
einfach los und ist eben für die anderen da, als Zahnrad, als
Sandwich, als Sorgenonkel. Das ist die eine Art, davonzukommen.

Vielen gelingt das problemlos. Die, die ihr Ego mögen und festhalten,
werden Egomanen, Zyniker, Trinker, depressiv oder aber verrückt. Am besten,
man wird verrückt. Ganz im positiven Sinne! In diesem Falle ist der
Weg wirklich mal das Ziel, an das auch viele andere Wege führen,
manche sogar in die Irre. Verrückte Menschen werden für ihre
Unberechenbarkeit geschätzt, jaja. Sie sind nie allein, denn sie haben
einen ganzen Zoo im Kopf. Es gibt keine Langeweile mehr. Sie
gelten als kreativ, hüstel, usw. Ist natürlich ein schmaler Grat. Also
wie wird man verrückt: Erstmal stellen Sie sich selbst in Frage, dass
sowieso. Damit beginnt dann eine ganz große Scheiße. 

Wenn sie die geistig überleben, fangen Sie an, ihre Welt frei zu gestalten, in
Gedanken. Und zwar ganz frei. Stellen Sie sich vor, wie klein der
Unterschied ist zwischen dazwischen und inzwischen. Na bitte.
Lachen Sie dann mindestens einmal pro Tag laut und hysterisch
wie ein verrückter Wissenschaftler eben. Lesen Sie vor allem
populärwissenschaftliche Bücher über Quantentheorie, daneben
deutsche Philosophen, Ufo-Esoterik und Schlumpfcomics. 

Dann können sie auch schon damit anfangen, Unsinn zu machen und auch
andere dazu anzustiften. Erzählen Sie etwa allen, dass Schaden klug
macht und wie sie sich so schon einen sagenhaften IQ erarbeitet
haben. Dekorieren sie Essen und Essensreste ganz nach Gutdünken
zu Konzeptkunst und verlangen sie vom Ober Geld dafür (Sie können
wahlweise auch an rituellen Essenschlachten teilnehmen wie die mit
den Tomaten). Dann malen sie surrealistische Bilder, schreiben
unsinnige Gedichte und legen sich einen oder zwei unsichtbare
Freunde zu. 

Benutzen sie auch ihre Mitmenschen als Schauspieler
oder Dekoration in ihrem freien Theaterstück. Stellen Sie sich dann
vor, dieses Theaterstück wäre keins, sondern ihr Leben sei so.
Herzlichen Glückwunsch. Sie sind frei und haben ihr Ego behalten.
Und niemand will es mehr von Ihnen haben, stattdessen wird man
anstehen, um seine Früchte zu haben, wenn Sie es gut anstellen.

Mittwoch, 14. Juli 2021

Der Mensch als Nutztier (Gastbeitrag von Sebastian)

In dieser Ordnung, der bürgerlichen, kapitalistischen, werden ja alle Wesen geschunden und verletzt, jeden Tag. Seelisch und körperlich; die Lohnarbeit macht Menschen zu Krüppeln, wir nennen das Berufskrankheiten, Vorruhestand, Frühverrentung, Berufsunfähigkeit, Burnout etc. und führen Statistiken darüber, die zu beurteilen helfen, ab welchem Ausmaß das dann nicht mehr zu vertreten ist, und zwar politisch nicht mehr zu vertreten ist und der Staat intervenieren muß (das Selbe auch im Allgemeinen bei zum Beispiel Grenzwerten für Luft- und Wasserverschmutzung). Mindestlohn, Arbeitsschutzgesetze, Gesetze zur Krankheits- und Rentenversorgung, das heißt Versorgung in denjenigen Zeiten, in denen die individuelle Arbeitskraft nicht ausreichend oder gar nicht zur Reproduktion eben dieser Arbeitskraft eingesetzt werden kann, das heißt nicht gekauft wird. Kindergeld, weil noch keine Arbeitskraft im Kind verfügbar ist, aber zukünftig; das variiert von Land zu Land. In Afrika und weiten Teilen Asiens verkaufen Frauen ihre Neugeborenen, der Marktpreis ist ein Scheffel Reis, der nährt den Rest der Familie für wenige Tage.

Keiner dieser Standards oder Grenzwerte sagt, das darunter kein Schaden entstünde; Uran im Wasser, Schwermetall im Gemüse, Hormone im Waschmittel, Lösemittel im Spielzeug, Feinstaub in der Luft, aber auch wöchentlich 32 Stunden in der Aluhütte, täglich 11 Stunden im Lkw-Führerhaus, 15 Tagesstunden als Kellner im Biergarten oder 40 Wochenstunden im ozon- und feinstaubverseuchten Büro sind und bleiben giftig und verursachen Schäden und Verkürzung der Lebenszeit und Tote, nur eben nicht mehr genug als daß darum noch jemand ein Aufhebens machen würde.

Alle Wesen, und wie es dann den restlichen, nicht-humanoiden Mitbewohnern des Planeten ergeht, darüber muß man keine empörten oder erstaunten Worte mehr verlieren.

Politisch also, nicht menschlich unvertretbar. Es gibt keine anderen anerkannten Ursachen dafür als die, die angeblich im Individuum selbst zu finden sind. Wer Probleme hat, ist nicht genügend ausgerüstet für die Anforderungen, er hat sich selbst nicht passend zugerichtet. Schwäche also. Kein Psychologe, niemals, mit keinem Wort, erklärt dem Patienten jemals etwas anderes, als wie er an sich “arbeiten“ kann um mit den Problemen umzugehen. Die PROBLEME anzugreifen ist hier keine Option, und das ist schon deswegen klar, weil die Probleme systemisch erzeugt werden und innerhalb dieser Ökonomie gar nicht gelöst werden könnten. Mit den Ideen und Gedanken von Freud, auf dem sie gründet, hat die Psychotherapie nichts mehr zu tun, sie ist pervertiert.

Als meine damalige Frau, mit dem Studium schon fertig, ihre erste Anstellung als Psychotherapeutin in einer Klinik hatte, da kam sie zu mir wegen einer ihrer Patientinnen, die seit längerem in tiefste Depressionen gefallen war; der Grund war, sie war arbeitslos geworden, und in das damals noch recht neue Hartz-System eingezogen. Ein Elend. Der Rat, den ich meiner Ex damals gab, kommt mir heute noch klug vor: Ich hab ihr gesagt, sie soll die Patientin anregen, sich mit anderen wie sie betroffenen Leuten in Verbindung zu setzen, eine Gemeinschaft zu bilden die sich gegen diese Demütigungen und Repressionen gemeinsam zur Wehr setzt, und ihr zeigt, daß sie nicht allein und schuldig, unzureichend und minderwertig, sondern eine von vielen ist, die jetzt in die Tretmühlen dieser zynischen Objektverwaltung geraten ist.

Also ihr nicht zu erklären, daß sie ja mit einem gewissen Selbsteinsatz, Mut und Organisation oder was weiß ich auch eine Arbeit finden könnte und ähnlichen Stuß, sondern ihr klarmachen, daß nichts an ihr falsch ist, sie schlicht das Opfer einer Vergewaltigung ist, einer staatlich oktroyierten Geißelung ihres Selbst, deren Umsetzung in Zwang, Schikane, Demütigung, Beleidigung, Abrede und Gängelung und so weiter nur die Spiegelung der Sicht der Kapitalgesellschaft auf ihre Insassen ist: Träger von Arbeitskraft. Nutzvieh.

Wir haben “Problemkinder“ in “Problembezirken“, die irgendwie komisch und aggressiv und angeblich konzentrationsgestört sind, das nennen wir AD(H)S und damit also krank nach dem ICD und der öffentlichen Meinung.

Wir haben “Alte“ in “Heimen“ über deren Weiterleben oder eben nicht weiter leben schon entschieden wurde, noch bevor menschenfeindliche Psychopathen in der laufenden, aktuellen Krise die kriminellen Diskussionen über Auswahlkriterien und Sinnhaftigkeit medizinischer Notversorgung für alte Menschen begonnen haben, und dafür auch immer genug Raum in den Medien bekommen.

Es ist schon länger her, daß aus den Kreisen der FDP “Diskussionen“ angestoßen wurden, ob es denn noch “sinnvoll“ sei, einem Achtzigjährigen eine neue Hüfte zu bezahlen. Ob man da nicht sparen könne. Ob man sowas überhaupt rechtfertigen könne, wo man doch Verpflichtungen gegenüber den Jungen und “den nachfolgenden Generationen“...

Nichts davon ist irgendwie neu, oder neu gedacht.

In dieser Gesellschaft gibt es keine Menschen, es gibt humanoide Organismen, die sich über eine von zweien oder beide Funktionen zu bewähren, das heißt zur Kapitalakkumulation beizutragen haben:

a) Konsument

b) Erzeuger von Mehrwert, das heißt Arbeitskraft.

Sonst keine Optionen.

Die menschliche Arbeitskraft, und nur die, erzeugt den Mehrwert im Produkt, das ausschließlich als Ware verfügbar ist, also käuflich erworben werden muß. Kein Käufer, keine Einlösung des Mehrwerts - das Produkt ist wertlos und verfällt. Kein Mahagonibaum ist etwas wert, bevor er gefällt und als Holz-Ware einen Abnehmer gefunden hat (natürlich wird Geld für den Besitz von Wald und Bäumen bezahlt, aber das hat nichts mit dem Wert der Bäume sondern mit der Spekulation auf künftige Erlöse damit zu tun). Honig, wo man meinen könnte die „Arbeit“ der Biene schaffe den Mehrwert aus dem Pollen, ist nutz- und wertlos solange er im Stock am Baum pappt und nicht von Menschen eingesammelt wird.

Es sei gesagt, daß schon sinnvoll unterschieden werden muß zwischen verschiedenen Formen des Wertes; man könnte den Honig einfach selber essen, aber hier genügt als Hinweis auf die in dieser Ökonomie entscheidende Form, Warenwert, diese Formulierung eines längst vergessenen und wenn nicht vergessen dann geschmähten Bartträgers:

„Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ungeheure Warensammlung.“

Selberfressen macht zwar fett, aber nur solange man auf einen Baum klettern kann und das auch darf, weil dieser Baum nicht jemandem, anderen, gehört.

Milliarden von Tonnen von Nahrung haben keinen Wert, wenn sie nicht VERKAUFT werden können. Der Produzent dieser Nahrungsmittel geht konkurs, die freigesetzten Arbeitskräfte verfügen über weniger oder gar kein Einkommen mehr, das mindert die gesellschaftliche Kaufkraft für Nahrungsmittel, und die Produzierenden der Nahrungsmittel, die weil unverkäuflich vernichtet worden sind, verhungern.

Die Produktion von Gütern, die nicht als Waren abgesetzt werden können, wird eingestellt und unterbleibt, egal ob es sich dabei um eine Sorte Brot, ein Automobil, eine unrentable Verkehrsverbindung oder auch die Produktion von Dienstleistungen handelt. Beispielsweise Postämter oder Gesundheitsversorgung auf dem Land oder in Kleinstädten oder Großstadtvierteln oder überhaupt.

Umgekehrt wird was als Ware absetzbar ist auf jeden Fall produziert, gleichgültig wie schädlich das Produkt für Mensch und Umwelt auch sein mag.

Ich habe einen Klumpen Gold, der ist 1000 wert. Ich baue eine Gussform, schmelze das Gold, und aus der Form entnehme ich eine goldene Venus. Ein Kunstwerk, und es ist 100 000 wert. Der Käufer nimmt die Venus, schmilzt sie ein, und hat wieder einen Goldklumpen im Wert von 1000. Das Gold ist fixes Kapital, die Arbeit darin variables Kapital, und nur mit diesem kann Gewinn erwirtschaftet werden, denn der Preis für das fixe Kapital ist stets gleich.

Moderne Maschinen können Gussformen auch bauen, allerdings müssen die Maschinen und die Steuerung erst von mir gebaut werden. Ich habe also die Gussform über einen Umweg gebaut, mit dem Unterschied, daß mir die Befriedigung des eigentlichen Erschaffens der Figur genommen ist, ich von der Arbeit also entfremdet bin; anstatt eines Kunstschaffenden bin ich jetzt eine Kraft, die abstrakte, weil unpersönliche, von mir unabhängig reproduzierbare Waren schafft. Ich bin damit entmenschlicht, denn der Mensch ist ein schaffendes Wesen oder Nichts.

Ich erhalte auch für diese Tätigkeit einen Lohn, der sich aber keineswegs an der Güte oder Kunsthaftigkeit des Produktes mehr bemißt, sondern nur daran, welche Kosten gesamtgesellschaftlich, also volkswirtschaftlich, die tägliche und die generelle Wiederherstellung meiner Arbeitskraft für diese Tätigkeit verursacht. Ich muß am nächsten Tag wiederkommen können. Oder zum gleichen Preis, das heißt zu den kalkulierten Kosten, ein Anderer mit gleicher Produktivität. Sonst nichts.

Nicht enthalten sind die Kosten, die meine Existenz vor Eintritt in den Lohnerwerbszyklus (Säugling, Kind) und nach Austritt (Alter) mir selbst verursacht. Es wird also nicht meine Arbeit entlohnt, nicht einmal meine Arbeitskraft, sondern die Kosten zur Aufrechterhaltung meiner Arbeitskraft werden erstattet, und zwar aufgrund der Konkurrenz stets zum gesamtgesellschaftlich ausgehandelten Minimum.

Daß das im Lebensabschnitt der Erwerbsfähigkeit Erwirtschaftbare für die Arbeiter gar nicht ausreicht, um ihr ganzes Leben zu finanzieren (und da reden wir gar nicht von großen Sprüngen oder Luxus), führt dazu, daß sie gezwungen werden, in ihrer Klasse, untereinander, solidarisch zu sein: der Staat greift noch vor der Auszahlung nach Gutdünken auf die Lohnsumme zu, und verteilt innerhalb der Arbeiterschaft um, zwingt also den Einzelnen zu weiteren Einschränkungen im täglichen Leben und Lebensgestaltung durch weitere Verknappung des zur Verfügung stehenden Warenerwerbsmittels, zum Zwecke der Kostendeckung im Alter. Was der Arbeiter von sich aus gar nicht tun würde, denn eigentlich reicht der Lohn ja gerade so für den aktuellen Lebensabschnitt. Der Lohn ist also defizitär, die Reproduktion gelingt nie vollständig, wir verschleißen.

Die Einführung von Arbeitersiedlungen, irgendwann Arbeitszeitgrenzen, Altersgrenzen nach unten für die Arbeiterschaft, später Krankenversorgung etc. sind nicht etwa aus einem sozialen Gedanken oder besserem entstanden, sondern weil das Kapital die Quelle seiner Mehrung, die Menschen als Träger der überhaupt nur verwertbaren Arbeitskraft fraß und frißt. (Auch ein Ochse der ein Mühlrad dreht tut das nur durch einen Menschen der ihn zähmt, nährt, züchtet; ist der Ochse frei, latscht er wieder durch die Wiesen und verrichtet keinerlei Arbeit, als ob nix wär’.) Um also das Werk des Kapitals zu erhalten, nicht es zu bremsen.

Wenn in den Anfangsjahrzehnten der Industrialisierung der Arbeiter nach seinem Zwei-Stunden-Marsch in die Stadt 16 Stunden gearbeitet hatte und dann zurückgewandert war, sechs Tage jede Woche, dann wurde seine Erschöpfung und die Ausfallrate durch Tod oder Verletzungen durch Ermüdung etc. spätestens dann zum Hemmnis für die Produktivität, das heißt die effiziente Verwertung des eingesetzten variablen und fixen Kapitals, als die Maschinen und deren Bedienung komplexer wurden und somit die Arbeitskraft differenzierter, also bei Ausfall weniger leicht zu ersetzen. Es wurde irgendwann ökonomischer, ein paar Häuser zu bauen und die Arbeiter fabriknah wohnen zu lassen, zumal man die Miete dann ja auch noch hatte. Und passiert ist das auch erst, als dieser ökonomische Vorteil durch Untersuchungen und Berichte und praktische Erfahrung auch aus anderen Ländern nachgewiesen war. Die Arbeit wurde produktiver, also billiger, die Kosten des variablen Kapitals sanken, der Mehrwert konnte aber zum gleichen Preis abgesetzt werden, die Profitrate stieg an.

Die Rente im Alter dient keiner Reproduktion von Arbeitskraft mehr, entsprechend unterliegt sie dauernden verschärften Angriffen, und die Empfänger, genau wie Arbeitslose, einer ununterbrochenen Denunziation als unnütz und überflüssig, reine Kostgänger halt. Politisch kann man diesem noblen Verlangen unserer Wirtschaft, hier doch zu sparen und nochmals zu sparen allerdings nicht so leicht und vollständig stattgeben. Wegen des Gestanks und der Fliegen.

Damit das auch klar ist, nicht wegen des Gestanks und der Fliegen an sich, an beides gewöhnt man sich, aber in diesem Ausmaß würde der Gestank doch auf die allgemeine Volksmoral, und die Fliegen, die man ja (in Deutschland allemal, mit Müh und Not sind von den 80 Millionen 40 arbeitsfähig) in Kilogramm pro Kubikmeter Luft messen müsste, auf die Produktivität schlagen; man müsste sie chemisch bekämpfen um grob handlungsfähig zu bleiben. Das schadet auch den Menschen.

Atombomben werden übrigens nicht deswegen nicht abgeworfen weil sie soviele Menschen töten, sondern weil das Wirkungsgebiet auf unabsehbare Zeit der Vernutzung durch das Kapital entzogen ist. Interessanter, und möglich, wird der Einsatz dann wieder, wenn ein Gebiet sowieso dieser Nutzung dauerhaft entzogen ist, weil zum Beispiel der Russe draufsitzt („Njet“) oder der Chineserer, und, das ist entscheidend, auf unabsehbare Zeit diesen Anspruch auch behaupten kann. Weil dann ist’s egal, und vielleicht räumt man damit den Konkurrenten aus. Für zukünftige Generationen.

“Alte“, Rentner, Kranke (oder Dasselbe in anderer Diktion: “die Überalterung“ [!!! das heißt Menschen leben zu lange, bzw. die falschen Menschen], die “Alterspyramide“, die ständig wachsenden “Kosten“ für die Krankenkassen [als könnte sich ein nicht hirntoter, nicht egomanischer, nicht völlig verkommener Mensch einen ANDEREN Zweck als Kostenübernahme für diese Institutionen vorstellen]), die haben alle eines gemeinsam nicht: Geld für Konsum und damit Erlös des in den Waren enthaltenen Mehrwertes, oder noch Arbeitskraft die verwertbar im Sinne von profitabler Anwendung für Erzeugung neuen Mehrwertes im fixen Kapital ist, also rentabel eingekauft wird.

Ein 80-jähriger Millionär mit Leberkrebs und Schüttellähmung ist in dieser “Diskussion“, die keine ist, sondern eine Veröffentlichung der herrschenden Sicht und Umsetzung, niemals gemeint. Er hat Kaufkraft, er ist kein Problem. Er ist ein Leistungsträger.

Kinder haben auch keine Kaufkraft, entsprechend ist Kind-sein auch kein Zuckerschlecken, allerdings haben Kinder einen Bonus: sie sind zukünftige Arbeitskräfte. Die Kosten für die ersten zwanzig Lebensjahre sind selbstverständlich von den Erzeugern zu tragen, auch wenn es dafür im Lohn den diese bekommen oder eben zunehmend nicht bekommen, gar kein Budget gibt. Und so ist das auch gemeint: die Falschen, also die ohne Geld weil nicht arbeitskräftig verwertbar genug, brauchen auch keine Kinder zu bekommen, auch das ist offiziell verkündet. Hier äußert sich wohl der Gedanke der guten und schlechten Genetik, also der Erblehre im schwärzesten Sinne, der Rassismus wäre, wenn er sich nicht eben auch gegen die eigene Mannschaft richten würde. Wir brauchen keine Kinder von Hartzern. ALGII-Empfängern wird das Kindergeld, das per Grundgesetz nicht nur an einige, sondern wenn, dann an alle bezahlt werden muß, vom Regelsatz wieder abgezogen. Das geht. Es wird ja bezahlt, nur sinkt dann der “Bedarf“ wie das so schön heißt. Frau X verdient jedes Jahr eine Milliarde dazu und erhält monatlich 270,- und mehr vom Staat je Kind, und darf das auch behalten. Genau wie das Elterngeld und, sollte es einst eingeführt werden, das Grundeinkommen.

Gut, der Kern der Sache ist die Reproduktion, deren Organisation halt in dieser Ordnung nicht im Sinne der Bedarfsdeckung für die Menschen, also der Reproduktion, des Erhaltes, menschlichen Lebens angelegt ist, sondern den Menschen als Mittel zum Zwecke der Reproduktion eines abstraktes Gebildes vernutzt und mißbraucht.

Das natürlichste Streben allen Lebens: der Selbsterhalt, und der dafür notwendige Aufwand der betrieben werden muß: Arbeit, werden dem Lebewesen entnommen und richten sich gegen das Wesen: die Arbeit hält es nicht am Leben sondern richtet es zu Grunde.

Der Nazi zieht aus all dem nur die falschen Schlüsse. Wut auf die Zustände hat er schon.

Aber seine Basis, das faschistische Weltbild, die muß er sich nicht ausdenken, die ist hier schon gesamtgesellschaftlich angelegt. Blinde Wut, so fällt ihm auch nicht mehr schwer auszublenden, daß sein Führer, der vor ihm stehend das “System“, “die Reichen“, die Zustände lauthals anprangert, nichts und gar nichts anderes ist als ein Vertreter genau dessen; alle die AfD- und Pegida- und sonstigen Hundsfötte sind Doktoren, Professoren, Politiker seit Jahrzehnten, Unternehmer usw. usf.

Das ist ein Widerspruch; den aufzuheben nutzt man den Fingerzeig auf ANDERE, und damit rücken EINZELNE ins Licht des Scheinwerfers der Verantwortliche sucht, wo es gar keine mehr gibt, weil nichts mehr anders sein kann in einer Welt, die kein Menschsein zuläßt. Und damit, mit dem Fingerzeig, schürt es die Mordlust.

Wie kam ich jetzt eigentlich auf diese kurze Einleitung; ja ich hab vor Ewigkeiten mal zwei Bücher aus dem Laden vom Vater mitgenommen, Otto von Corvin, aus dem 19. Jahrhundert, zur damaligen Zeit und lange ein Bestseller. Band eins “Der Pfaffenspiegel“ und Band zwei “Die Geißler“.

Ein großer Freigeist und Aufklärer, dessen Werke für fehlende Wissenschaftlichkeit kritisiert wurden, ein Anspruch den er gar nicht erhoben hat.

Es ist, Dir wird's gefallen, unfassbar witzig und unterhaltsam. Man kann die Dinger für um die fünf Euro schön zerlesen im Leineneinband antiquarisch schießen, und es gibt sie auch digital, zum Beispiel hier:

https://www.projekt-gutenberg.org/corvin/geissler/geissler.html

Ein Auszug aus “Die Geißler“, Kapitel 1 “Allgemeine Prügelschau“:

>>>In einem Buche, welches ebenfalls vom Geißeln und den Jesuiten handelt, las ich, daß ein berühmter Gelehrter in einer deutschen Universitätsstadt folgendes Schema für die Geschichte des Schlagens aufstellte: »Die Prügel oder Schläge, sagte er, lassen sich eintheilen in Staats- und Privat-, öffentliche und geheime, freiwillige und unfreiwillige, zweckgemäße und zweckwidrige, rationalistische und supernaturalistische, geistliche und weltliche, reguläre und irreguläre, trockene und saftige Prügel. Ferner lassen sie sich eintheilen: 1) nach dem Subjekte, welches prügelt; 2) nach dem Objekte, welches geprügelt wird; 3) nach dem Materiale, womit –, 4) dem Körpertheile, auf welchem es geprügelt wird; endlich 5) nach der Dauer der Züchtigung.«

Ich führe dies nur an, um eine Uebersicht von all den Thematas zu geben, welche in diesem Buche mehr oder minder weitläufig abzuhandeln sind. Auf alle Spielarten kann ich mich nicht mit gleicher Gründlichkeit einlassen, sondern muß mich hauptsächlich auf die geistlichen Prügel beschränken; allein da alle andere Arten mehr oder weniger nahe mit ihnen verwandt sind, so muß ich sie wenigstens in der Kürze berühren, und das soll in diesem Kapitel geschehen.

Zunächst wollen wir darin die klassischen Prügel und nach ihnen die biblischen untersuchen; dann folgen die weltlich-mittelalterlichen und endlich die modernen, insofern sie nicht Kinder der römisch-katholischen sind und in das Gebiet der geistlichen herübergezogen werden müssen.<<<

Donnerstag, 14. Januar 2021

Der leere Kasten

Herr Dr. psych. Spinnebein trommelte gelangweilt mit den Fingern auf den Tisch und blickte in seine leere Praxis. Er hatte einen großen Tisch und ein paar Stühle drumherum. Die "Bekloppten", wie er seine Patienten insgeheim liebevoll nannte, konnten sich einen der Stühle aussuchen, je nachdem, wieviel Distanz sie brauchten. Dann gab es noch einen Wasserspender mit spitzen Wasserhütchen und eine Tafel zum dran herum malen. Eine Couch gab es nicht. Dr. S. mochte es nicht, wenn die Patienten einschliefen. Herr S. trug einen Kittel, als niedergelassener Psychologe eigentlich eher eine blöde Angewohnheit.

Dann klopfte es endlich und ein neuer Patient, den er noch gar nicht kannte, betrat den Raum. S. stand auf und gab ihm die Hand, die ihm der andere, etwas mechanisch, wie S. schien reichte und schlaff auch noch. Der Blick des Patienten war stur auf seine Füsse gerichtet. Er war ein hoher und auch recht beleibter Herr mittleren Alters mit Halbglatze. Roboterhaft schnurrte er ein "Gutentachherrdokter" herunter und setzte sich auf den Stuhl, der am nächsten zu den stand, auf den sich Herr S. gesetzt hatte. "Also Kontaktangst hat der schon mal nicht", dachte S. und fragte:

"Sie sind also Herr...?"

"Wast mein Name, Johann." Wieder dieses Schnurren. S. lief es kalt den Rücken herunter. 'Sei ein Profi!', rief er sich zur Ordnung.

"Ah, ja und weswegen haben sie diesen Termin verabredet Herr Wast?"

"Hmm nun ja, sie können sich vorstellen wie peinlich mir das ist..."

"Nur keine Scheu."

"Also mich, mich, ähhhh...."

"Ja?"

"Mich befallen Persönlichkeiten anderer Menschen Herr Dokter. Sie befallen mich wie Krankheiten."

"Ja, das ist nicht unbekannt, Herr Wast, da seien Sie beruhigt. Wie wachen Sie denn morgens auf?"

"Ja ganz normal mit dem Wecker."

"Ah nein, als wer oder was wachen Sie denn morgens auf?"

"Ja, morgens ist es auch sehr schlimm, da bin ich praktisch leer."

Herr Wast griff sich an den Kopf "Ein ganz leerer Kasten ist das dann."

"Ah,  Sie meinen also, morgens gar keine eigene Persönlichkeit zu haben, in der Nacht wird alles gelöscht und Sie.."

"Genau so ist es..."

"...müssen  sich ihre Person im Laufe des Tages erwerben? Wie ein geschlüpftes Küken?"

"Muss ich, ja, und dass ist mir peinlich."

"Aber das braucht Ihnen doch nicht peinlich zu sein."

"Ich habe Skrupel."

"Hmmm?"

"Und es ist unangenehm, ich habe ja oft keine Handhabe, was ich da abbekomme. Wie eine Krankheit ist das, ich schaue nur jemanden an und es geht ratzfatz! Plötzlich sind Sie eine Backwarenverkäuferin. Busfahrer. Oder ein Bettler. Oder..." er schüttelte sich, "...ein Pantomime. Und wenn dann jemand den Schwindel entlarvt, muss ich wieder wechseln. Das kann ganz schön chaotisch werden. Also ich war da mal in einem Stadion zwischen zwei Fanblocks..."

"Soso, hörn Sie mal, Herr Wast. Ich verschreibe ihnen eine verspiegelte Brille. Das dürfte Ihnen helfen, bis wir für Sie was dauerhaftes gefunden haben."

"Oh, danke Herr Dokter."

"Noch eins Herr Wast."

"Ja?"

" Schauen Sie mir doch bitte mal in die Augen. Wer sind sie gerade?"

"Aber...Sie wissen nicht..."

"Ich bitte Sie! Ein Experiment!"

"Bittesehr. Jetzt werde ich. Ich werde Sie."

"Hochinteressant! Hochinteressant! Das will ich sehen, warten Sie!"

Her S. kramte nach seiner Videokamera. Als er aufsah, war Herr Wast verschwunden!

"Na sowas. Bin ich jetzt überarbeitet oder was?" murmelte er.

Er sinnierte eine Weile auf seinem Stuhl, dann rief er:

"Schwester! Haben wir noch einen Termin?"

'Zu langsam!', lachte eine schnurrende Stimme in seinem Kopf.

Die Schwester steckte den Kopf ins Zimmer.

"Haben Sie mich gerufen? Wo ist denn der Herr Dokter hin?"

"Ja das ist mir jetzt wieder peinlich, aber...", sagte Herr Wast, sah sie bübisch an und legte den viel zu kleinen Kittel sauber über den Stuhl, "..es geht immer so verdammt schnell."