Herr Dr. psych. Spinnebein trommelte gelangweilt mit den Fingern auf den Tisch und blickte in seine leere Praxis. Er hatte einen großen Tisch und ein paar Stühle drumherum. Die "Bekloppten", wie er seine Patienten insgeheim liebevoll nannte, konnten sich einen der Stühle aussuchen, je nachdem, wieviel Distanz sie brauchten. Dann gab es noch einen Wasserspender mit spitzen Wasserhütchen und eine Tafel zum dran herum malen. Eine Couch gab es nicht. Dr. S. mochte es nicht, wenn die Patienten einschliefen. Herr S. trug einen Kittel, als niedergelassener Psychologe eigentlich eher eine blöde Angewohnheit.
Dann klopfte es endlich und ein neuer Patient, den er noch gar nicht kannte, betrat den Raum. S. stand auf und gab ihm die Hand, die ihm der andere, etwas mechanisch, wie S. schien reichte und schlaff auch noch. Der Blick des Patienten war stur auf seine Füsse gerichtet. Er war ein hoher und auch recht beleibter Herr mittleren Alters mit Halbglatze. Roboterhaft schnurrte er ein "Gutentachherrdokter" herunter und setzte sich auf den Stuhl, der am nächsten zu den stand, auf den sich Herr S. gesetzt hatte. "Also Kontaktangst hat der schon mal nicht", dachte S. und fragte:
"Sie sind also Herr...?"
"Wast mein Name, Johann." Wieder dieses Schnurren. S. lief es kalt den Rücken herunter. 'Sei ein Profi!', rief er sich zur Ordnung.
"Ah, ja und weswegen haben sie diesen Termin verabredet Herr Wast?"
"Hmm nun ja, sie können sich vorstellen wie peinlich mir das ist..."
"Nur keine Scheu."
"Also mich, mich, ähhhh...."
"Ja?"
"Mich befallen Persönlichkeiten anderer Menschen Herr Dokter. Sie befallen mich wie Krankheiten."
"Ja, das ist nicht unbekannt, Herr Wast, da seien Sie beruhigt. Wie wachen Sie denn morgens auf?"
"Ja ganz normal mit dem Wecker."
"Ah nein, als wer oder was wachen Sie denn morgens auf?"
"Ja, morgens ist es auch sehr schlimm, da bin ich praktisch leer."
Herr Wast griff sich an den Kopf "Ein ganz leerer Kasten ist das dann."
"Ah, Sie meinen also, morgens gar keine eigene Persönlichkeit zu haben, in der Nacht wird alles gelöscht und Sie.."
"Genau so ist es..."
"...müssen sich ihre Person im Laufe des Tages erwerben? Wie ein geschlüpftes Küken?"
"Muss ich, ja, und dass ist mir peinlich."
"Aber das braucht Ihnen doch nicht peinlich zu sein."
"Ich habe Skrupel."
"Hmmm?"
"Und es ist unangenehm, ich habe ja oft keine Handhabe, was ich da abbekomme. Wie eine Krankheit ist das, ich schaue nur jemanden an und es geht ratzfatz! Plötzlich sind Sie eine Backwarenverkäuferin. Busfahrer. Oder ein Bettler. Oder..." er schüttelte sich, "...ein Pantomime. Und wenn dann jemand den Schwindel entlarvt, muss ich wieder wechseln. Das kann ganz schön chaotisch werden. Also ich war da mal in einem Stadion zwischen zwei Fanblocks..."
"Soso, hörn Sie mal, Herr Wast. Ich verschreibe ihnen eine verspiegelte Brille. Das dürfte Ihnen helfen, bis wir für Sie was dauerhaftes gefunden haben."
"Oh, danke Herr Dokter."
"Noch eins Herr Wast."
"Ja?"
" Schauen Sie mir doch bitte mal in die Augen. Wer sind sie gerade?"
"Aber...Sie wissen nicht..."
"Ich bitte Sie! Ein Experiment!"
"Bittesehr. Jetzt werde ich. Ich werde Sie."
"Hochinteressant! Hochinteressant! Das will ich sehen, warten Sie!"
Her S. kramte nach seiner Videokamera. Als er aufsah, war Herr Wast verschwunden!
"Na sowas. Bin ich jetzt überarbeitet oder was?" murmelte er.
Er sinnierte eine Weile auf seinem Stuhl, dann rief er:
"Schwester! Haben wir noch einen Termin?"
'Zu langsam!', lachte eine schnurrende Stimme in seinem Kopf.
Die Schwester steckte den Kopf ins Zimmer.
"Haben Sie mich gerufen? Wo ist denn der Herr Dokter hin?"
"Ja das ist mir jetzt wieder peinlich, aber...", sagte Herr Wast, sah sie bübisch an und legte den viel zu kleinen Kittel sauber über den Stuhl, "..es geht immer so verdammt schnell."