Montag, 8. Juli 2024

Herr Blattschuss folgt seinen Trieben

Der Herr Blattschuss wacht morgens auf und ist schon mürrisch drauf. Das ist sonst nicht so, aber heute. Er weiß heute ist der Tag, an dem er seinen eingetretenen literarischen Pfad verlassen muss. Sein Doktor hat ihm das ans Herz gelegt, denn dem Herrn Blattschuss steht eine Verblödung ins Haus. Herr B. ist süchtig nach Arztromanen. Die verschlingt er zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrot.

"Der Körper liest mit, Herr B." hat der Arzt gesagt. "Sie müssen ihren literarischen Pfad verlassen und auch mal was Gesundes lesen. Gedichtbände zum Beispiel, ja und Erstausgaben erfolgloser Schriftsteller. Die ersten werden die letzten sein, kleiner Scherz, haha, auch Antiquarisches, das ist sehr gehaltvoll, jaja. Schriftsteller war damals noch eine Berufung und kein Beruf, hören sie, Herr B.! Die armen Teufel sind dutzendweise für ihre Ideale in die Kiste gesprungen. Solche ballasthaltige Kost brauchen sie. Nicht den aalglatten Konfekt von Schwester Brunhilde und ihrem ähh, Doktor."

So denkt Herr B. an den letzten Termin und merkt nicht mal, dass er beim Ankleiden die Mütze falsch herum aufsetzt. Draussen regnet es, bald wird es auch schneien. Sorgenvolle Gedanken schieben sich, dicken Raupen gleich, durch seine Morgenwelt. Die muss er loswerden, also dackelt er noch mal in die Praxis, mit verdrehter Mütze und verdrehten Gefühlen.

"Neues ist gefährlich" händeringt Herr B. "Ich habe von spontanen Geisteszuständen gehört. Manche Leute sollen danach herumgelaufen sein und von Niveau geredet haben. Genie und Wahnsinn sollen dicht beieinander liegen, ja auf offener Straße miteinander schmusen, Herr Dokter. Einer soll gesagt haben, verkehrt herum gelesen mache das Buch erst Sinn! Er las ein Telefonbuch Herr Dokter. So was macht mir Angst. Soll ich nicht lieber auf Liebesromane umsteigen? Die regen bestimmt an, ja?"
"Nein, Herr B., das sind Gerüchte, nur so leer gedroschenes Stroh. Leben sie die Vielfalt. Auf einen Hesse können sie schon mal ein lustiges Taschenbuch folgen lassen."

„Da fällt mir aber ein Stein aus der Niere, Herr Dokter, Sie machen mir richtiggehend Lust auf die Avantgarde.“ Gesagt getan. Herr B. schlägt sich wohlfeil ins wilde Gebüsch, dass die Federfuchser da so struppig wuchernd in die platte Landschaft kippen. Nachdem er die ausgetretenen Straßen des Mainstreams hindurchgehüpft ist und nur verächtlich gelacht hat über all die müden Socken, die Dünnbrettbohrer, die immer nur den Weg des geringsten Widerstandes gehen und nicht weitergehen wollen, stehenbleiben bei eilig zusammengenagelten Mythenfetzen und staunend den immer wieder selben Sensationen nachgeifern, weil sie das Langzeitgedächtnis schon lange für ein Mitspracherecht unter ihresgleichen eingetauscht haben.

Was für ein plumper, rückratloser Bückling er gewesen war. Er hat die schönen einsamen Früchte nicht gesehen, die abseits des Weges unter schweren Dornen reifen! Doch jetzt kämpft er sich vorwärts. Schon bald hat ihn kein Mensch mehr gesehen. Er schmaust Festmähler jenseits aller Vorstellung. Er hat sich ein Haus errichtet mit einem Fundament aus Folianten noch aus dem Zechstein und Dachschindeln aus Anthologien. Eine Tür ganz aus Grimoires mit Bannsprüchen gegen Heyne, Bastei und Co. Er hält sich sogar eine kleine bissige Streitschrift in einem Zwinger aus Lehrbüchern.

Doch ach, es sollte ihm nicht gut ergehen. Schon bald fängt Herr B. an, zu interpretieren, mit sich selbst zu hadern, zu reflektieren und zu sinnieren und zu philosophieren und der ganze Zirkus. Nach einem russischen Revolutionswälzer ist Herrn B. vier Wochen schlecht. James Joyce bringt ihn schließlich auf die Intensivstation.

"Abwechslung, Mann! Um Gottes willen!", stirnrunzelt der Arzt. Herr B. blickt ihn gequält an. Er kann nicht mehr anders, nie mehr will er zurück gehen in diese schalen Niederungen des immer wieder kehrenden Dummseins. "Wer einmal aus dem Blechnapf fraß, haarrrgh!", ächzt er und schießt sich mit einem Traktat über "Irrationale Logik" ins Nirwana. Später dann hat man ihn ganz locker auf Telefonbücher umstellen können. 

Donnerstag, 4. Juli 2024

Gehirnfernsehen

1.

Ich sitze in einem abgedunkelten Raum mit Bildschirmen und warte auf den Doktor. Mein Kopf ist verdrahtet und schwer, ich betrachte mein Gehirn im Schnitt. Dreht man am Knopf, fährt die Kamera glatt durch die Windungen, bis zwei weisse Augenbälle erscheinen. Das sieht gruselig aus, wie ein Marsianer. Dieses graue, vergnubbelte Ding mit den 2 Geleebällen ist mein Ich, nein oder war ich vor 10 Minuten, war ich das wirklich? Hätte man mir ein anderes Ich reingeschmuggelt, zack-reingebeamt würde ich das merken? Neenicht. Menschen sind oft nicht dass, wofür man sie hält, denke ich und frage mich, ob das auch für mich gilt... Velleicht haben irgendwo Leute ihren Spass mit Persönlichkeitszapping, bei launischen Typen wird einfach öfters gezappt.

Ich drücke gerade noch ein paar Knöpfe: Wasmachtdaswasmachtdaswasmachtdas? Irgendwie fühle ich mich nun anders. Wer bin ich, wo bin ich? Warum habe ich Hunger auf Regenwürmer?
"Tut mir leid, an sich selber dürfen Sie nicht rum spielen..." Eine Hand legt sich schwer auf meine Schulter. Das Gesicht dazu kann ich nicht sehen, es liegt im Dunkeln, verdammt, was... "Sooo, das Backup drauf gespielt..., alles klar?" Zzzippp. Muss wohl eingenickt sein. "Ach ja, klar, Herr Doktor, ich hab hier schon mal auf sie gewartet." "Kein Thema, also dass hier sind Sie..."

2.

Seit ich von meinem Arzt so Glückspillen bekommen habe, berührt mich der Libanonkrieg im Fernsehkasten gar nicht mehr so. Erst sehe ich einen Fahrradfahrer, den eine Katjuscha vom selbigen geholt hat, nur die Füsse sind noch übrig. „Sauberer Schuss“, denke ich. Dann ein Schiff mit Flüchtlingen, dass nach Zypern fährt „Da wollte ich auch schon immer mal hin, toll.“
Ich nicke kurz ein. Bob Geldorf weckt mich und sagt mir, dass im Sudan auch diese Nacht wieder tausende Kinder auf der Flucht sind und wünscht mir einen geruhsamen Schlaf.
So ein netter Mensch. Ich lächle still in mich hinein. Die Nacht ist dann wirklich ausgezeichnet.

And I find it kind of funny
I find it kind of sad
The dreams in which I'm dying
are the best I`ve ever had


Ich wache auf. Erst ein wenig Müsli, dann die gute Tablette. "Reis and Schein!", wie der Engländer sagt. Mir wird kurz schlecht, dann kalt und heiß und dann geht es wieder. Dann pumpe ich das Fahrrad auf und radle los. Mir wird gar nicht bewusst, wie sich die Landschaft verändert. Lauter ocker Steine, auch Dreck und noch mehr Steine um mich rum. Verdammt heiss auch, Steinofen! Endlich ein paar Gebäude, seltsam, keiner da. Doch, Ziegen. „Mäh!“ grüße ich. Die schlackern mit den Ohren und kauen echt unbeeindruckt. Ein schrilles Pfeiffen schreckt mich auf, dann fliegt etwas großes Dunkles auf mich zu und es wird Nacht.

Die Apfel- und die Birnbäume erblühten,
Nebelschwaden lagen über dem Fluss,
da ging Katjuscha hinaus aufs Ufer,
auf das hohe, steile Ufer
.“

Noch ein Erwachen. Vor mir liegt ein Sack, der mir erzählt er käme von Care und enthielte Weizenmehl. Sauber. Mehlbomben auf Zivilisten.
Das Säcke reden können, ist mir seit längerem bekannt, sollte aber allgemein verboten werden.
Ich sehe einen Mann mit blauen Helm auf mich zulaufen. „Tut mir leid, ist mir aus der Hand gerutscht“ „Ein Mehlsack?“ „Scheiße, nein, Mörtel!“, lacht er. Alles verändert sich wieder.
Ich liege neben einem Baugerüst in der Witzlebenstrasse. Naja.

3.

Ich bin krank. Ich habe eine Missverständnislücke. Aber was fase ich da. Ich denke, jeder macht was aus dem andern. Der Ton rutscht langsam herunter, er ist zu dünn, zwei Finger breit. Die Welt als Hörbuch. Alles klimpert so schnell vorbei wie ein Postkartenständer, aber viel zu schnell und ich soll mir was raussuchen. Aber ich will nicht wirklich die Hand da rein stecken.
Das tut bestimmt weh. Ach ich hab's, ich nehm den Fuß! Wah, was für ein Schlamassel. Jetzt regnet es Ansichten.

Ich nehm nun keine Pillen mehr vom Arzt, die machen mich duhn. Die stapeln sich jetzt im Schrank immer höher, ja sie quellen schon heraus und liegen im Zimmer wie Sand. Manchmal bin ich Dagobert und tauche hinein. Schaumkronen chemischer Freude rasseln über den Balkon.

Von den Siechellen habe ich einen Eimer gestellt, einen rot emaillierten. Zum Sonne einfangen, für die Brille und für die Frösche aus dem Schwimmpool, das Blau kommt vom Curacao, wie man weiss. Goldbrassen setzen auch Segel. Sie schauen sich die Kacheln von unten an und ich fang Fang locker vom 5 Meterkickboard aus, rollend. Easy! Und dann dreht sich das alles um 360°? Ach Sonnenwende. Leise geht der Mond zu Grunde. Das kommt vom Gold! Morgens nicht in den Mund nehmen! Was dann? Regenwürmer?

4.

Den Hunger auf Regenwürmer verspüre ich immer noch ab und an. 

Jugendsünde

War einst ein Marionettenmann,
hing an seinen Zwirnen dran.
Den Lenker suchen er getraut,
ach hat da nur ein Kind erschaut.

Wenn ich keine Fäden hätt,
grübelte der Marionett,
wär jeder Tag voll Sonnenschein
und ich trüg mein Kreuz allein.

Könnte eigne Zügel lenken
von Leuten, die nicht selber denken.
Riss sich los, doch seine Achsen
warn der Schwerkraft nicht gewachsen.

Er fiel hin mit lautem Krachen
auf den Boden der Tatsachen.
Jetzt nur weiter, ganz allmählich,
dachte sich der Holzkopf fröhlich.
Lernt nun laufen Tag für Tag,
ein famoser Puppenschlag. 

Freitag, 7. Juni 2024

Die Handlung, die Wandlung

Die trotzige Behauptung: das Handeln offenbare den Charakter. Was ist nun ein Charakter? Ist es ein Unterschied, ob man liebevoll zubereitete Moral, die man dankenswerterweise kindgerecht aufgegessen hat, in sich fühlt oder sich Moral als Erwachsener aneignen muss? Die Moral als Muttersprache. Das Moralgebäude ist mit vielfachen logischen Fallstricken bespannt.

Vom "Das macht man eben so." bis zum "Deshalb macht man das so." ist es beim Lernen der Syntax ein Weg. Dazwischen kommt "Ist das wirklich gut für den anderen und für mich? Warum? Warum tut es dann weh? Wieso darf ich nicht verdrängen? Werde ich manipuliert? Ist Manipulation schlecht?" Beim nüchternen und schonungslosen Durchdenken prallt man grauenhafterweise gegen unangenehmen Egoismus, Feigheit und auch schwarze Monster, die vorgeben, die Realität zu sein.

Das heisst auf der einen Seite sind sie hübsch, nur auf der anderen schwarz und hässlich (wer hat das gesagt?) "Hoppla, Herr Monster!", entschuldigt man sich und verbeugt sich linkisch und zieht den steifen Zylinder gerade so, als solle etwas hineingeworfen werden. Besser, sie alle zu entlassen, die inneren Klassenkameraden? Ja, denn sie sind verdorben, edle Schimmel sind sie. Sie hinterlassen Leere.

Das fordert Mut vor sich selbst und ist so seltsam, dass man sich wiederum fragt: Warum? Wieso darf ich nicht Krüppel bleiben? Oder bin ich heil und werde zum Krüppel? Wo ist die Wahrheit? Wird mir mein Ich genommen oder wird mein Ich? Ist am anderen Ende des Ichs das Du, das Wir oder wieder nur ein Ich und welches? Gebe ich mir etwa selbst die Hand?

Aber ja doch, ich bin ja alle. Halt, ich darf nicht alle sein. Der Imperativ hat es mir verboten. Der innere. Da ist noch ein anderer. Die beiden kämpfen, ich bin das Schlachtfeld. Halt nochmals. Klingt das nicht passiv? Nein, denn ich lasse kämpfen. Ich habe sie beide bezahlt. Bald bin ich alle. Bald bin ich wie alle anderen. Die Synapsen werden mir aus den Ohren herauswachsen wie Tentakel und mich mit allen Wesen verbinden. Ich werde unsere Fehler verstehen.